Außenansicht Lutherhaus Eisenach © Stiftung Lutherhaus Eisenach (Anna-Lena Thamm)

Von Kai Kiraly

Porträtfoto von Dr. Michael Weise © Stiftung Lutherhaus Eisenach (Sascha Willms)

Wenn Dr. Michael Weise heute von seinem Studium an der Justus-Liebig-Universität Gießen erzählt, dann ist es kein nüchterner Rückblick, sondern ein lebendiges Gespräch über prägende Jahre, Umwege und Entscheidungen. Der inzwischen 42-Jährige arbeitet seit 2020 im Lutherhaus Eisenach. Dort ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für „Ausstellung und Sammlung“ verantwortlich – eine Tätigkeit, in der sich sein Geschichtsstudium und seine germanistische Ausbildung ideal verbinden. „Es ist eine sehr vielseitige Arbeit“, sagt er, „denn ich muss Inhalte wissenschaftlich fundiert aufbereiten, aber zugleich so anschaulich darstellen, dass sie auch ein Schulklassenpublikum verstehen kann.“ Zu seinen Aufgaben gehört es, das Wirken von Martin Luther und den Einfluss seiner Übersetzungen auf die großen deutschen Denker wie Goethe zu vermitteln. Der Weg in den Beruf führte zunächst in eine Forschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „Gewaltgemeinschaften im Dreißigjährigen Krieg“, die er nach drei Jahren verließ. Es folgte ein Volontariat bei seiner heutigen Arbeitsstelle.

Gefragt nach seiner Herkunft, erzählt er: „Ich bin am Bodensee aufgewachsen. Nach dem Abitur bin ich nach Berlin gegangen, um dort meinen Zivildienst zu leisten. Das war eine spannende Zeit, aber ich habe gemerkt, dass ich mich auf Dauer mit etwas beschäftigen möchte, das meinen Interessen entspricht.“ Sein Interesse an Mathematik und Physik sei zwar vorhanden gewesen, doch für das Studium entschied er sich bewusst anders: „Ich habe mir die Frage gestellt, was ich eigentlich über Jahre hinweg machen möchte – und da war klar, dass Geschichte und Germanistik viel besser passen.“

Studium, Projekte und Engagement

Warum fiel die Wahl auf Gießen? „Eigentlich standen sowohl Marburg als auch Gießen zur Auswahl. In Marburg war damals schon alles auf Bachelor und Master umgestellt, das war mir zu verschult. In Gießen gab es noch das Magistersystem und das hat mir Freiräume eröffnet: Ich konnte meine Schwerpunkte setzen und mein Tempo bestimmen.“ So schrieb er sich in Mittlerer und Neuerer Geschichte als Hauptfach ein, dazu kamen deutsche Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft als Nebenfächer. Rückblickend bewertet er die Entscheidung als Glücksfall: „Vor allem die Kombination aus Geschichte und Germanistik war genau das Richtige für mich.“

Besonders lebendig spricht er über die Veranstaltungen, die nicht nur theoretische Inhalte boten, sondern zu eigenem Handeln anregten, zum Beispiel ein Seminar zur Literaturvermittlung bei Prof. Dr. Feuchert mit dem Titel “Literaturpolitik. Literaturereignis. Literaturevent“. „Daraus entstand die Idee, ein Fußballspiel gegen die deutsche Autorennationalmannschaft zu organisieren”. Die deutsche Autorennationalmannschaft bestand damals aus Moritz Rinke, Thomas Klupp und Florian Werner, alles Autoren die Literatur und Fußball miteinander verbanden. Das Seminar kombinierte den sportlichen Wettbewerb mit einem literarischen Rahmenprogramm. „Wir Studierenden mussten alles selbst machen: Organisation, Finanzierung, Bewerbung. Das war unglaublich aufwendig, aber auch unglaublich erfüllend“, ergänzt Michael Weise.

Ein anderes Seminar, diesmal zur „Zensur in der Literatur“, prägte ihn noch stärker. Dort sprach Katja Behrens, die damalige Vizepräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland, über inhaftierte Schriftsteller*innen weltweit. „Das hat mich tief berührt. Zusammen mit drei Kommilitoninnen habe ich die Initiative ‚Gefangenes Wort‘ gegründet.“ Aus dieser Initiative ist ein Verein geworden, den Weise bis heute begleitet – inzwischen als stellvertretender Vorsitzender. Besonders stolz ist er auf das Projekt „Hafen der Zuflucht“, das mehrere Jahre vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wurde. „Wir konnten in Gießen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufnehmen, die wegen ihrer Texte ihre Heimat verlassen mussten. Sie bekamen Unterkunft, ein Stipendium und die Möglichkeit, ihre Arbeit in Sicherheit fortzusetzen.“ Auch wenn die Förderung inzwischen ausgelaufen ist, bleibt dieses Engagement für ihn ein zentraler Teil seiner Biografie.

Vom Studium in den Beruf

Dauerausstellung im Lutherhaus Eisenach © Stiftung Lutherhaus Eisenach (Anna-Lena Thamm)

Auf die Frage, wie er nach dem Studium den Übergang ins Berufsleben geschafft hat, denkt er einen Moment nach: „Ehrlich gesagt: mit Unsicherheit, aber auch mit Mut.“ Ein Lehramtsstudium kam für ihn nie infrage, auch wenn er wusste, dass die beruflichen Aussichten für Historiker*innen ohne Staatsexamen nicht einfach waren. Zunächst arbeitete er in einem DFG-Forschungsprojekt über „Gewaltgemeinschaften“ im Dreißigjährigen Krieg. „Ich habe zu kroatischen Söldnern geforscht – das war ein spannendes Thema, aber eben befristet.“ Als die Förderung endete, entschied er sich gegen die akademische Laufbahn. „Ich wollte nicht jahrelang von Projekt zu Projekt springen. Also habe ich mich im Museumsbereich beworben.“

Der entscheidende Schritt war ein Volontariat bei der Stiftung Lutherhaus Eisenach. „Dort habe ich gemerkt: Hier passt alles zusammen – meine historische Ausbildung, mein literaturwissenschaftlicher Hintergrund und mein Interesse an Vermittlung.“ Heute trägt er Verantwortung für die Objektbestände und deren Präsentation. „Das Lutherhaus beschäftigt sich mit Martin Luthers Bibelübersetzung und deren Wirkung. Dass diese Übersetzung die deutsche Sprache und Kultur bis heute prägt, kann ich dank meines Studiums sehr gut einordnen.“

Gefragt nach seinen Erinnerungen an Gießen, wird er fast ein wenig nostalgisch: „Ich vermisse die Zeit, in der man sich mit Texten und Fragen ohne Druck auseinandersetzen konnte. Auch das studentische Leben war toll: Gespräche mit Kommilitoninnen und Kommilitonen, spontane Abende in Kneipen, Theaterbesuche. Gießen ist vielleicht keine Schönheit auf den ersten Blick, aber es hat eine lebendige Kultur, die ich sehr geschätzt habe.“

Zum Abschluss gibt er den heutigen Studierenden einen Rat mit auf den Weg: „Man sollte offen bleiben – auch für Themen, die zunächst langweilig erscheinen. Wer tiefer einsteigt, entdeckt fast immer etwas Spannendes.“ Und was er persönlich aus seiner Zeit in Gießen mitgenommen hat? „Die Erkenntnis, dass Vergangenheit und Gegenwart komplex sind. Es gibt selten nur eine Wahrheit, sondern viele Perspektiven. Das hat mich gelehrt, nicht vorschnell zu urteilen, sondern Zusammenhänge verstehen zu wollen. Das begleitet mich bis heute.“