Fotos von Hannah Heuper und Josephine Ellermeyer

Von Finn Heuper und Josephine Ellermeyer

Im Sommersemester 2022 beschäftigten sich Student*innen der Germanistik in einem Seminar zur literarischen Kanonbildung von Prof. Dr. Joachim Jacob mit dem Konzept ‚Kanon‘, Theorien der Kanonforschung sowie Kritik an dem bestehenden und vornehmlich präskriptiven Kanon. Das Konzept Kanon bzw. eine Kanonpluralität, denn ‚den einen‘ Kanon gibt es nicht, umfasst sogenannte Klassiker der deutschen Literatur der letzten Jahrhunderte, die als besonders literarisch und lesenswert oder exemplarisch für einen bestimmten Stil und die jeweilige Entstehungszeit angesehen werden. Zudem hat der Kanon eine identitätsstiftende Funktion und sollte somit einen Repräsentationsanspruch besitzen. Vor allem, wenn er von unserer Gesellschaft breit rezipiert werden soll und die Lektüre – wie auch im schulischen Kerncurriculum verankert – der Perspektivübernahme und Empathieförderung dienen soll. Der Kanon ist nicht statisch, sondern fluide und prozesshaft, wie unsere lebendige und sich stetig wandelnde Gesellschaft, aus der er hervorgeht. Dem zum Trotz ist er jedoch deutlich weniger vielfältig und divers. Die Repräsentanz einer pluralen Gesellschaft sucht man dort vergeblich. Bei genauerem Hinschauen fällt auf, dass er zum größten Teil weiß, europäisch und männlich geprägt ist – vielmehr, dass diese Attribute auf die meisten der im Kanon vertretenen Autoren und Werke zutreffen. Hier zeigt sich auch schon deutlich das Problem und der Veränderungsbedarf des literarischen Kanons.

Schwerpunkt einer unserer Sitzungen war die Beschäftigung mit der Forderung nach einem diverseren Kanon, spezifisch hinsichtlich weiblicher sowie queerer Literatur. Dabei interessierte uns auch, inwieweit theoretische Überlegungen zu diesem Thema im schulischen Kontext umgesetzt werden bzw. umsetzbar sind.

SCHULE

Verschiedene Institutionen sind an der Bildung eines Kanons beteiligt. Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten, Verlage, Messen, Bibliotheken und Buchläden klassifizieren bestimmte Werke als literarisch besonders wertvoll. Aber auch im Familien- und Freund*innenkreis beeinflussen wir uns gegenseitig darin, welche Literatur wir als lesenswert empfinden.

Um zu ermitteln, was in der Sekundarstufe I als Schullektüre gelesen wird, führten wir im Vorfeld eine stichprobenartige Befragung unter Lehrkräften im Gießener Raum durch. Diese ergab, dass nicht die Behandlung kanonischer Texte den primären Bildungsauftrag bildet, sondern das Hauptanliegen des Deutschunterrichts ist, Lesefreude zu vermitteln und zu fördern. ‚Die‘ deutschen Klassiker, wie zum Beispiel Goethes Faust oder Schillers Die Räuber, werden weiterhin gelesen, da diese in den Leselisten des Bundeslandes verankert sind und für den Unterricht empfohlen werden. Zudem ist eine Lektüre ‚der‘ Klassiker in Hinblick auf die Oberstufe und das angestrebte Zentralabitur obligatorisch, letzteres wirkt insofern kanonverstärkend. Hinzu kommt, dass vor allem in der Bildungseinrichtung Schule hinsichtlich Kanonvermittlung die Theorie und Praxis deutlich divergieren: Zwar wäre es schön, diverser zu lesen und plurale(re) Lebensrealitäten sowie Schriftsteller*innen abzubilden – das bestätigten auch unsere Interviewpartner*innen: „Eine gezielte Entscheidung gegen ‚kanonische Texte‘ und für ‚diverse Texte‘ findet nicht statt, will sagen: Beides hat bei uns Platz, wird aber nicht ‚aus Prinzip‘ gelesen bzw. abgelehnt.“ Jedoch wird die Entscheidung für oder gegen Texte auch von den Ressourcen beeinflusst. In der knapp bemessenen Vorbereitungszeit von Lehrkräften finden sich kaum Kapazitäten, mehrere Lektüren vorzubereiten, sodass die Schüler*innen je nach Präferenz auswählen können, noch dafür, stetig neue Unterrichtsmaterialien für die jährlichen Schullektüren zu entwerfen. Und somit werden weiterhin die bereits bestehenden Materialien verwendet und die immergleichen Klassiker gelesen. Die Schule als Kanoninstanz unterstützt durch ihre Kanonpflege somit die bestehenden und statischen Kanonhierarchien. Dabei wäre es im Sinne der Sichtbarkeit und Perspektivübernahme enorm wichtig, den Schüler*innen in ihren elementaren Entwicklungsphasen Sichtweisen zu eröffnen, die helfen, Vorurteile abzubauen, und sie in ihrer Identitätsentwicklung unterstützen, anstatt weiterhin überwiegend Texte zu behandeln, die den Status quo reproduzieren. Die Schule kommt ihrer Aufgabe in dieser Hinsicht nur äußerst unzufriedenstellend nach.

WEIBLICHE LITERATUR

Grundlage unserer Sitzung bildete das 2021 erschienene Sachbuch Frauenliteratur – abgewertet, vergessen, wiederentdeckt der Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert. Bereits mit dem Titel, in dem das Wort ‚Frauen‘ durchgestrichen ist, macht sie auf den Missstand im Literaturbetrieb aufmerksam, dass es zwar die Bezeichnung ‚Frauenliteratur‘ gibt, um eine bestimmte Art von Texten zu benennen, das folglich notwendige Pendant ‚Männerliteratur‘ jedoch nicht existiert. Es scheint, als gebe es einen Unterschied zwischen Literatur, die explizit von und für Frauen geschrieben wurde und der Literatur, die für alle geschrieben und von der Allgemeinheit rezipiert wird.

Bei einer eingehenden Beschäftigung mit dem Thema des weiblichen Schreibens stellte Seifert fest, dass deutlich weniger Frauen als Männer in den Programmvorschauen der Verlage vertreten sind und ihnen auch in den Literaturkritiken des Feuilletons geringere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auch widerlegt ein Blick in die Literaturgeschichte die gerne aufgestellte Behauptung, Frauen hätten früher nicht so viel und vor allem nichts Wichtiges geschrieben. Diese Annahme ist nicht nur nicht zutreffend, sondern auch schlichtweg verkürzt. An dieser Stellen sollen nur beispielhaft Jane Austen, Marlen Haushofer und die unter dem Pseudonym George Eliot schreibende Mary Anne Evans genannt werden. Weibliche Schriftsteller*innen gerieten und geraten in Vergessenheit, weil sie bis heute deutlich weniger besprochen, schlechter erforscht und seltener gelehrt werden als ihre männlichen Kollegen. Zudem werden sie weniger wertgeschätzt und ihrem Werk bzw. bereits vorab den Gegenständen weiblichen Schreibens eine geringere Literarizität zugesprochen. Die Abwertung weiblichen Schreibens verhindert eine Etablierung in der männlich tradierten Literatur(geschichte). Es unterstützt die implizite Annahme, dass manche Themen größere literarische Qualität besitzen als andere, die folglich minder gewertet werden und denen schnell Trivialität attestiert wird. Seifert führt ein polemisches Zitat des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki an, das ebendiese Haltung unterstreicht: „Man darf auch nicht sagen, Frauen können keine Romane schreiben. […] Frauen können Novellen schreiben, wunderbar, Frauen können Gedichte schreiben. Fragen Sie mich nicht, warum! Fragen Sie Gynäkologen!“. Neben der offensichtlichen Misogynie dieser Aussage wurde und wird Frauen zum Teil noch immer abgesprochen, etwas von literarischer Qualität – sogenannte Höhenkammliteratur – zu erschaffen. In Literaturkritiken und Rezensionen spielen oftmals außerliterarische Aspekte wie das Aussehen der Autor*in eine Rolle und dienen damit einer subtilen Herabwürdigung ihres Werkes. Eine Integration weiterer Sichtweisen in die etablierte männliche Literatur scheint nicht möglich. Demnach ist der Kern des Kanondiskurses hoch politisch: Wer darf mitreden? Wer wird gehört? Wer hat was zu sagen? Wer und was wird in den Texten repräsentiert?

Bisher war und ist es das männliche Schreiben und die männliche Perspektive, die in der Literatur als allgemeingültig angesehen wird. Im Zusammenhang mit den zweimal jährlich erscheinenden Verlagsprogrammen und der darin zum Teil deutlich hervorstechenden Homogenität und Heteronormativität der Autor*innen, stellt Seifert die Frage: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“. In Frauenliteratur zeigt sie, dass die fehlende Repräsentanz weiblicher Autor*innen ein strukturelles Problem ist und sich durch alle Bereiche des Literaturbetriebs, der Literaturgeschichte und der Literaturkritik zieht und ebenfalls die Buchläden und das Kaufverhalten der Rezipient*innen einschließt.

Seiferts Feststellungen befassen sich mit den Missständen im Literaturbetrieb und konkret mit dem weiblichen Schreiben. Ihre Aussagen lassen sich jedoch auch als Schablone über die Schicksale anderer marginalisierter Gruppen legen. So sind auch queere Autor*innen sowie Schwarze, People of Color und Menschen mit Behinderung unterrepräsentiert und aus dem Kanon ausgeschlossen. Dort klafft in der Literatur eine große Leerstelle, die Erfahrungen, Werte, Identitäten und Lebensrealitäten nicht abbildet.       

QUEERE LITERATUR

Wir benutzen die Bezeichnung ‚queer‘ als Oberbegriff für Personen, die sich als nicht heterosexuell und/oder cis geschlechtlich identifizieren, also bspw. trans*, bisexuelle oder aromantische Menschen – das ‚Q‘ in LGBTQ* steht für queer. Unter ‚queerer Literatur‘ verstehen wir Literatur, die sich mit dem Thema Queerness befasst, z.B. dadurch, dass eine der (Haupt-)Figuren queer ist und dies im Text eine Rolle spielt. Das bedeutet nicht, dass der Hauptfokus darauf liegen muss. Solche Texte gibt es natürlich nicht erst seit gestern, man denke nur an die homoerotischen Gedichte der griechischen Dichterin Sappho, die um 600 v.Chr. lebte. Aber was meinen wir, wenn wir einen ‚queereren Kanon‘ fordern? Dass mehr Bücher, in denen queere Figuren auftauchen, gelesen werden? Oder mehr Texte queerer Autor*innen? Denn auch die, siehe Sappho, gab es schon immer. Nur war das Veröffentlichen von Texten mit mehr oder weniger offensichtlich queerem Inhalt sehr lang für viele Autor*innen ein großes Risiko.     

Weshalb ist es so wichtig, queere Literatur im Kanon und in der Gesellschaft zu sehen? Die LGBTQ*-Community stellt eine marginalisierte Gruppe dar, die struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist. Unreflektierte, herabwürdigende Äußerungen wie „das ist ja voll schwul“ tragen zum Erhalt negativer Vorurteile sowie Stigmatisierung und damit zu Diskriminierung bei. Durch Repräsentation in Literatur können solche Vorurteile abgebaut werden, da den Rezipient*innen gezeigt wird, dass queere Personen gleichwertig sind. Gleichzeitig können Leser*innen für spezifisch queere Themen, etwa das Coming Out, und Problematiken, wie eben Diskriminierung aufgrund geschlechtlicher oder sexueller Identität, sensibilisiert werden. Dadurch werden Perspektivübernahme und Empathie gefördert, was vor allem für junge Menschen ein wichtiger Schritt in ihrer Entwicklung ist. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit derartigen Texten auch im unterrichtlichen Kontext. Davon abgesehen kann es – vor allem auf junge – queere Personen einen großen positiven Einfluss haben, wenn sie Menschen repräsentiert sehen, die Ähnliches empfinden oder erfahren wie sie. „Visibility matters“, heißt es im Englischen, denn wer sich nirgends repräsentiert sieht, hat Schwierigkeiten, sich selbst zu verstehen und in der Gesellschaft zu verorten.

Ist es in diesem Zusammenhang wichtig, ob der*die Autor*in eines queeren Romans selbst queer ist? Oder kommt es darauf an, wie Queerness im Text dargestellt wird? Ist generell der Inhalt des Textes oder der*die Autor*in selbst höher zu gewichten, wenn es um einen diverseren Kanon geht? Diese Fragen besprachen wir auch im Seminar, ohne zu einer eindeutigen Antwort zu kommen oder kommen zu wollen. Vor allem die Frage, wer im Sinne der Authentizität worüber schreiben ‚darf‘, ist schwer zu beantworten. Ist es beispielsweise in Ordnung, wenn ein cis Mann über Menstruationsschmerzen schreibt? ‚Darf‘ eine nicht-queere Person eine homoerotische Liebesgeschichte schreiben? Und wenn nicht, besteht dann nicht die Gefahr, dass nur noch Betroffenenliteratur geschaffen wird und stellt das nicht ein neues Problem der Tilgung – wo doch Literatur per se erst einmal ‚alles‘ darf? Der Diskurs um ein verändertes Kanonverständnis, eine Dynamik und Pluralität ist längst nicht zu Ende.           
Kanon gibt Sprache vor und wenn die Sprache und die Stimmen bestimmter Gruppen aus der literarischen Repräsentanz getilgt werden oder vielmehr gar nicht die Möglichkeit bekommen, vertreten zu werden, entsteht eine immense Leerstelle, die sich nicht durch eine vermeintlich höhere literarische Qualität der bisherigen kanonischen Texte füllen, erklären, rechtfertigen oder entschuldigen lässt.

Wenn Du Interesse hast, dich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen, kannst du hier nachlesen: