Von Lorenz Schmitt
Ein Mann in Lederjacke betritt das Podium und nimmt hinter einem Tisch Platz, vor ihm ein Glas Wasser, lose Zettel und Bücher. Nach einigen bedächtigen Blicken und dem Sortieren der Unterlagen beginnt er seinen Vortrag: „Zu Beginn werde ich 22 Gedichte aus dem Zyklus Abschied lesen, dann acht Balladen aus meiner frühen Schaffensperiode.“ Seine Aufzählung beendet er mit den Worten: „Dann haben wir Gelegenheit, miteinander zu sprechen.“
Manchen wird diese Karikatur einer Autorenlesung aus Loriots Filmklassiker Pappa ante portas bekannt vorkommen. Im Rahmen eines Gastvortrags von Professor Sascha Feuchert über Literaturvermittlung durch Literaturhäuser in der Vorlesung Literatur in institutionellen Kontexten von Professor Uwe Wirth diente sie als Paradebeispiel, um zu veranschaulichen, was gemeinhin unter einer „Wasserglas-Lesung“ verstanden wird: Ein*e Autor*in gibt – begleitet von einem Wasserglas zur Erfrischung und Aufrechterhaltung der Stimme – Auszüge aus dem eigenen Werk zum Besten, ehe das Publikum im Anschluss Fragen über das soeben Gehörte stellen kann.
Anhand dieser Szene war ein wesentliches Handlungsfeld von Literaturhäusern bereits veranschaulicht: die Organisation von Lesungen und damit der direkte Kontakt mit Autor*innen. Doch auch darüber hinaus bot der Vortrag, den der Vorsitzende des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) gemeinsam mit seiner Kollegin Doktor Anika Binsch aus dem Team der Geschäftsführung hielt, interessante Einblicke in die Aufgaben und Anliegen von Literaturzentren als Institutionen der Literaturvermittlung.
Feuchert: „Handlungssystem Literatur ist in Deutschland sehr komplex“
Dabei stand vor allem die Frage im Raum, warum es überhaupt zusätzliche Vermittlung von Literatur durch entsprechende Einrichtungen brauche. „Machen das nicht schon Buchläden, Schulen und die Literaturkritik zu Genüge?“, gab Feuchert zu bedenken, um dann mit einigen Statistiken vor Augen zu führen, wie groß der deutsche Buchmarkt eigentlich sei und wie notwendig daher auch vielfältige Vermittlungsinstanzen. So setzte der deutsche Buchmarkt im Jahr 2022 mit einer Produktion von 64.278 Titeln insgesamt 9,44 Milliarden Euro um. „Da merken Sie schon, wofür wir Vermittlung brauchen. Sie brauchen Vermittlungsinstanzen, damit Sie die Literatur finden, die Sie auch wollen“, kommentierte Feuchert die Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Unerlässlich erscheint vor diesem Hintergrund die Arbeit solcher Kulturinstitutionen, die vor allem die Vermittlung von literarischen Erzeugnissen der Gegenwart in den Blick nehmen und somit den Diskurs darüber fördern möchten. Mittlerweile, so der Vorsitzende des LZG, gebe es in jeder größeren Stadt derartige Einrichtungen. Die größten unter ihnen haben sich überdies im Netzwerk der Literaturhäuser zusammengeschlossen, das insbesondere auch die Förderung von Gegenwartsliteratur mit einem eigenen Literaturpreis anstoßen will.
Daneben existiert auch ein Verbund der jungen Literaturhäuser. „Das ist sehr wichtig, weil sich hier Aktionen bündeln, die sich auch an Kinder und Jugendliche richten. Da wird Leseförderung betrieben und wir sehen, dass die Lesekompetenz und die Lesemotivation in Städten mit entsprechenden Einrichtungen im Vergleich signifikant höher sind“, hob Feuchert hervor. Ein entsprechendes Programm für Kinder und Jugendliche sowie die Zusammenarbeit mit anderen Vermittlungsinstanzen in diesem Bereich wie beispielsweise Kindergärten und Schulen sind daher ebenso ein Betätigungsfeld von Literaturhäusern wie die abendliche Autor*innenlesung. Diese bleibe nichtsdestotrotz eines der Kerngeschäfte von Literaturhäusern, so Feuchert. „Es ist der Versuch, literarische Texte durch den Autor hörbar zu machen und diese zu erörtern.“ Solche Veranstaltungsformate könnten durchaus Diskursräume öffnen, aber auch verschließen und hätten nicht selten lektüreleitende Funktion.
Feuchert selbst erinnerte sich in diesem Zusammenhang an die erste Lesung von Günter Grass zu dessen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel (2006), in der der bekannte Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger nachträglich seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS eingestand. „Da wurde der Ton gesetzt, wie in den kommenden Wochen über das Werk gesprochen und geschrieben wurde.“
Binsch: „Wir haben immer vor Augen, dass wir ein ausbalanciertes Programm haben wollen“
Nichtsdestotrotz werden auch für die altbekannte Form der „Wasserglas-Lesung“ mitunter neue, kreative Konzepte erprobt. Feuchert wies darauf hin, dass vor allem die Räumlichkeiten wesentlich zum Ambiente der Lesung und auch zur Rezeption des gelesenen Textes beitrügen. Entsprechend werden häufig auch Lesungen außerhalb der angestammten Spielstätten an besonderen Orten angeboten. Damit einher geht die Hoffnung, neue Besucher*innenkreise zu erschließen und sie auf das Format der Lesung aufmerksam zu machen.
Diesem Ziel sieht sich auch Anika Binsch verpflichtet, die das Literarische Zentrum Gießen als lokales Beispiel für ein Literaturhaus vorstellte. „Wir möchten als Literaturlotsende dienen und ein Veranstaltungsangebot machen, das viele Interessen adressiert“, umriss sie die Arbeit des LZG. Das von einem Verein getragene Gießener Literaturzentrum hat für dieses Ziel drei Strategien ausgearbeitet. Neben einem Programm, das möglichst vielschichtig sein soll und die Schwerpunktbereiche Gegenwartsliteratur, Literaturgeschichte und Kinder- und Jugendliteratur abdecken soll, sind dies vor allem die Vernetzung mit anderen Vermittlungsinstanzen sowie das Angebot von Ausbildungsmöglichkeiten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die enge Zusammenarbeit des LZG mit dem Fachbereich 05 Sprache – Literatur – Kultur der JLU. Dadurch sei es dem Literaturhaus möglich, als Ausbildungsstätte zu fungieren und Praktika sowie im Literaturbetrieb vollwertig anerkannte Volontariate anzubieten.
Auch andersherum erwies sich die Kooperation der beiden Institutionen anhand dieses Vortrags als lohnenswert. „Wir haben das Glück, einen solchen institutionellen Kontext der Literaturvermittlung mit im Haus zu haben“, freute sich Uwe Wirth über den praxisnahen Einblick des LZG im Rahmen seiner Vorlesung. Die Studierenden waren von dem Gehörten gleichermaßen angetan und so stand am Schluss wie bei jeder guten Veranstaltung der Austausch mit dem Publikum.
Ausgehend von einer Zahl, die Binsch in ihren Ausführungen erwähnte – acht Millionen Leser*innen habe der Buchhandel in den letzten zehn Jahren verloren – kam die Frage auf, ob sich dieser Rückgang auch in den Besucher*innenzahlen von Lesungen widerspiegele. Insgesamt merke es die Branche, wobei die Besucher*innenzahlen in Gießen nach der Coronapause im Durchschnitt wieder relativ konstant bei 80 Teilnehmenden lägen, resümierte Feuchert. Binsch erinnerte an die vielen jungen Literaturbegeisterten, die sich in Onlineforen und in sozialen Medien austauschen würden: „Manche junge Menschen haben das Format Lesung noch nicht für sich entdeckt“, fasste sie das Potenzial dieser Zielgruppe zusammen, die durch die vielfältige Vermittlungsarbeit in Zukunft neu für Literaturhäuser und deren Angebote begeistert werden soll.