Das Stadttheater Gießen führte in der Spielzeit 2015/2016 Rinkes Stück “Wir lieben und wissen nichts” auf. © Ekatherina Doulia

Von Ekatherina Doulia

„Ich gehe immer automatisch in die andere Ecke, wenn alles nach da rennt.“ Mit dieser Aussage beschreibt einer der erfolgreichsten Dramatiker Deutschlands im Gespräch mit Dr. Petra Bolte-Picker (BiZ Wetzlar) seine Studienzeit – und eigentlich auch sein Schreiben. Moritz Rinkes Stücke sind für Schauspieler wie Zuschauer ein Wechselbad der Gefühleund überaus facettenreich: Zwischen Ernst, Trauer und Wut schleichen sich Verwirrung und Erheiterung auf die Bühnen. Rinke unterhält mit seinen Werken nicht nur; er belehrt auch nicht. Er macht beides und scheint damit aus dem Rahmen zu fallen. Aber kann man das in der heutigen Zeit, in der in Schauspielhäusern schon vieles ausprobiert wurde, überhaupt noch?

Seit seinem Debüt 1995 mit Der graue Engel zieht er mit Stücken wie Die OptimistenCafé Umberto und Westendzahlreiche Besucher in die Theater. Seine Dramen erscheinen dabei bizarr und ambivalent: Denn trotz humoriger Pointen, werden auch ernste und politische Themen behandelt. Rinke beschreibt im Interview mit Matthias Heine (Welt), dass esbspw. in Westend „um den Abschied von einem behaglichen Gefühl“ geht. Gemeint ist damit das Empfinden einer sicheren Beständigkeit in der Gesellschaft. „Nationalismus, Populismus, Verrohrung und so weiter“ führten letztlichzu einer immer größeren Spaltung der Allgemeinheit. Diese Veränderung sei dem Autor zufolge in den letzten Jahren stärker zu spüren. In einem anderen Stück, Café Umberto, spricht er die zunehmende Arbeitslosigkeit um 2005 an und das teils tragische Schicksal unterschiedlicher – vor allem künstlerischer und akademischer – Berufsgruppen.  Rinke zeigt mit seinen Werken nicht nur die politische oder gesellschaftliche Realität, wie er im Interview mit Matthias Heine verrät. Ihm gehe es auch immer darum, dass in einem „Stück die Figuren mit Fragen konfrontiert“ werden, die sie weder erwartet haben noch beantworten können. Genau von dieser Konfrontation sollen auch die Zuschauer betroffen sein. Rinke-Experte Kai Bremer (Uni Osnabrück) erklärt, dass der Dramatiker beim Schreiben stets sein Publikum im Blick habe. „Seine Stücke sind Drahtseilakte, die nur Millimeter über den messerscharfen Gipfeln der Realität stattfinden“, so Bremer. Und so müssen sich auch die Theaterbesucher mit Arbeitslosigkeit, Lebenskrisen, Ehekriegen und Liebesverlust beschäftigen.

Doch wie passt nun der Humor dazu? Wieso schauen sich zahlreiche Theaterbesucher Rinkes Dramen an? Und warum sind sie nicht bedrückend, sondern belustigend? An den Inszenierungen selbst liegt es nicht. Auch wenn der Tagesspiegel bei den Figuren von Café Umberto von „gerupften Paradiesvögeln“ spricht, sind weder die Kostüme noch das Bühnenbild gemeint. Vielmehr scheinen die Dramen, die Figuren – vor allem die Dialoge selbst – die Pointe auszumachen. Denn Rinke amüsiert. Und problematisiert! „Einige Theater sowie Teile der Fachkritik haben immer noch einen altmodischen Sinn von Unterhaltung und sogenannter ernster Kultur“, verrät er Matthias Heine. Seiner Ansicht nach gibt es für viele Dramaturgen entweder ernste oder amüsante Dramen. Beides zusammen – sogenannte Tragikomödien – seien eher die Seltenheit. Doch eben diese neuen Perspektiven, diese Vermischungen machen RinkesSchreiben aus. Und genau damit fällt er auf den Bühnen auf. 

Gerade diese Stilmischung bewirkt, dass sich Theaterregisseure bei den Aufführungen nicht nur an den Werkenorientieren, sondern sogar recht textnah inszenieren. Bremer beschreibt in einem Aufsatz, dass das von Rinke praktizierteIneinander von Fabel, Szene und Figur eine Vorstellung fordere, „die dem Regisseur wenig Spielraum lässt, weil sonst die Teile des Dramas nicht miteinander harmonieren.“ Rinke selbst befürwortet die Werktreue und sträubt sich eher gegen die willkürlichen Änderungen mancher Regisseure. „Da werden Texte als Vorlage benutzt oder als Sprungbrett, um sich möglichst weit davon zu entfernen, möglichst weit hochzuspringen und natürlich auch um als Regisseur möglichst sichtbar zu werden“, kritisiert Rinke. 

Es zeigt sich: Rinke fällt wie kaum ein anderer Dramatiker der Gegenwart aus dem Rahmen. Letztlich zeichnet sich dadurch auch sein Erfolg aus: Er kann Ernst, er kann Witz – er kann beides.