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Portrait Saskia Hennig von Lange. Foto: © Stefan Freund

Der erste für mich prägende Ort in Gießen ist sicher das Institut für Angewandte Theaterwissenschaften gewesen, an das ich Mitte der 90er Jahre zum Studieren gekommen bin: Hier gab es inspirierende Lehrende, Performer*innen und Künstler*innen, jede Menge tolle Kommilitonen und natürlich großartige Partys. Und nicht zuletzt habe ich meinen Mann hier kennengelernt. Ganze Nächte haben wir auf der Probebühne verbracht, oder auf dem Flur der „Wilsonstraße“. Ich erinnere mich, wie wir einmal für eine Partydekoration mehrere große, goldene Kunstpalmen aus dem Fundus des Herrenausstatters Köhler ausgeliehen und in meinem roten Fiat Panda mit offenem Verdeck wie eine rollende Blumenvase einmal quer durch die Stadt gefahren haben. Und nach der Party natürlich auch heil wieder zurück. 

Ästhetische Konzepte wurden so schnell ausprobiert wie wieder verworfen, in den Seminaren bin ich einigen der Denker*innen begegnet, die mich bis heute begleiten. Das war Gießen damals für uns: Das theaterwissenschaftliche Institut, die damit verknüpften WGs – ehrlich gesagt, hatten wir ATW-Studierende immer das Gefühl sozusagen „gegen“ Gießen zu leben, wir hätten es mit Foucault vielleicht so formuliert: Das Institut stellt alle anderen Räume (zumindest in Gießen) in Frage, es ist eine Heterotopie. Und doch musste ich mich, um mein erstes Buch schreiben zu können, von dem allen auch wieder ein Stück entfernen. Nicht räumlich, das Buch ist ja im Wesentlichen in Gießen entstanden, aber in Gedanken. Im Rückblick hat mein Wechsel nach dem Diplom in die mittelalterliche Kunstgeschichte sicher auch damit zu tun: Der Versuch trotz aller postmoderner und dekonstruktivistischer Theorie und Lesart der Welt, doch eine (zumindest für den Moment) kohärente Geschichte erzählen zu wollen, natürlich mit allen diskursiven Abgründen, denen ich wohl nicht mehr entkommen werde. Und nachdem ich vom Phil II ans Phil I gewechselt bin, bin ich kaum jemals zurück ans ATW-Institut gegangen. Als wäre die Rathenaustraße eine unüberwindbare Schwelle geworden.

Ich erinnere mich genau, wie ich in der Studentenwohnung in der Bleichstraße 22 (das grüne Eckhaus direkt an der Wieseck), in der mein Mann Benno und ich damals lebten, an meinem ersten Buch geschrieben habe, ohne damals schon zu wissen, dass das der Beginn meines Schriftstellerlebens sein sollte: Im Winter war es kalt in der Altbauwohnung, wir hatten kein Geld für die Heizung (oder sie funktionierte einfach nicht) und ich saß mit Jacke, Schal und Mütze an meinem Schreibtisch. Das Fenster ging in Richtung Wieseck, von draußen schien die Sonne herein, und ich hörte die „Untendrunterwohnerin“ unten werkeln. Ja, es gab sie wirklich. Auch die knarzenden Dielen, auf denen mein Protagonist geht oder stürzt, sind diejenigen, die hoffentlich noch immer in der Wohnung liegen. Viele der inneren Bilder, die ich beim Schreiben von „Alles, was draußen ist“ hatte und die immer noch in mir auftauchen, wenn ich aus dem Buch vorlese, sind eng mit Gießen verknüpft. Und auch der Handlungsort selbst ist nicht weit von Gießen entfernt: Das Buch spielt in der anatomischen Sammlung der Marburger medizinischen Fakultät, das ich im Rahmen eines Seminars über „Körperbilder“ besuchte. Was mich aber faszinierte an den Exponaten, sprengte den Rahmen des Wissenschaftlichen. Was also als Versuch begann, einen kunsthistorischen Aufsatz über das Thema zu schreiben, mündete schließlich in der Novelle „Alles, was draußen ist“. Doch in diesem Buch stecken nicht nur die visuellen Eindrücke aus dem anatomischen Museum, sondern auch die Ergebnisse zahlreicher intensiver Gespräche mit meiner im April 2018 gestorbenen Doktormutter und Freundin Silke Tammen. Sie hat mich gelehrt, in Bildern und Objekten das zu suchen, was diese nicht auf den ersten Blick enthüllen wollen, im guten Sinne misstrauisch zu sein. Und neugierig. Und so vermischt sich in meinen Büchern beides, die Literatur und die Wissenschaft. Hier habe ich den Freiraum, so zu denken, wie ich das im universitären Rahmen nicht kann. Doch auch wenn ich den Schwerpunkt meines Arbeitens mittlerweile auf das Literarische gelegt habe, werde ich diesen forschenden Blick nicht mehr verlieren. Und so war es ein seltsam-trauriges Erlebnis im vergangenen Juni im Margarete-Bieber-Saal eine Trauerrede auf Silke zu halten. An genau jenem Ort, an dem ich viele Jahre zuvor meinen ersten kunsthistorischen Vortrag gehalten hatte.

Wenn ich an Gießen denke, denke ich also an die Uni und die Menschen, die mir dort begegnet sind und an ein paar wenige, teilweise private Orte, WG-Küchen, Treppenhäuser und Hinterhöfe. Auch Dachböden. Vielmehr aber erinnere ich mich an Wege. An der Wieseck entlang von unserem Haus zum Bahnhof. Oder der Fahrradweg Richtung Uni, neben dem kleinen Bach, wie oft bin ich den im Dunkeln gegangen. Manchmal sind wir auch weiter gegangen, an der Uni vorbei und Richtung Schiffenberg. Mag sein, dass ich da an einem Bunker vorbeigekommen bin, der mich noch nicht interessiert hat, aber jetzt eben doch in einem meiner Bücher wiederaufgetaucht ist. Über den Seltersweg mit einem seltsam schalen Gefühl am Büchner-Haus vorbei, in dem Büchner nie gelebt hat. Und so fremd und leer, wie mir dieses vermeintliche Büchner-Haus damals erschien, blieb mir auch Gießen in den zehn Jahren, die ich dort lebte. Heute weiß ich, dass das nicht stimmte: Gießen hat mir Begegnungen ermöglicht und (innere) Räume eröffnet, ohne die ich vielleicht keine Schriftstellerin geworden wäre.