Von Dana Lissmann
„Will gerade zur Universität“, schreibt Rinke als Student 1989, als er im heftigen Liebeskummer einen Erkenntnismoment erlebt: „ein Bild wie ein Blitz durchbrennt meinen Schädel: Der junge Frisch und seine flatternden Krähen; dazu die Schüsse, das Krächzen, überall Sumpf, ohne Boden“. So Rinke in seinem Brief Max Frisch, den er zu Gießener Studentenzeiten verfasste und der eine wiederholte Rolle in seinen Selbstdarstellungen und Erzählungen spielt – beispielsweise in seinem Artikel Im Stundenhotel mit Max Frisch, nachzulesen in seinem Band Erinnerungen an die Gegenwart (2014). In dieser ursprünglich für den SPIEGEL verfassten Kolumne verdeutlicht Rinke, dass ihn Frischs Eheroman Stiller bereits in jungen Jahren auf seinen Reisen und literarischen Wegen begleitete. Dort erfindet sich die Hauptfigur neu, um Alter Ego und Ehe zu entkommen.
‚Entkommen‘ will auch der Autor, wenn er sich im Brief an Max Frisch von seinen Vorbildern loslöst: Leser*innen können verfolgen, wie ein junger Rinke sich in rasanten Gedanken assoziativ an großen Autoren wie Frisch, aber auch Kleist und Goethe orientiert und letztlich seine markante Moormotivik entwickelt. Inwiefern es sich bei dem Dokument formell um einen ‚Brief‘ handelt, bleibt dabei fraglich. Die lockere Anrede „Liebster Frisch“, der folgende Gedankenstrom und das abgebrochene, grußlose Ende deuten darauf hin, dass Rinke weniger an sein Vorbild schrieb als über es.
„Ich wollte Frisch einen Brief schreiben“, erzählt der Autor jedoch in Im Stundenhotel mit Max Frisch. „Ich schrieb den ganzen Winter 1991 an dem Brief, als ich ihn an Suhrkamp schicken wollte, war Max Frisch tot“. So und ähnlich klingen seine Geschichten über das Dokument, die allerdings – wie auch die Entstehungsdaten – voneinander abweichen. Mal entstand es nach Frischs Tod im Winter 91, mal zu dessen Todeszeitpunkt im April 91. Das Schriftstück selbst befindet sich unvollendet im Gießener Vorlass des Romanciers und Dramatikers – ein Nachlass zu Lebzeiten, sozusagen – und ist datiert auf Februar 1989. Bei den verschiedenen Zeitangaben handelt es sich nicht um Irrtümer, sondern um eine bewusste künstlerische Entscheidung. Mit dieser schriftlichen Anrufung seines großen Vorbildes inszeniert sich der Gegenwartsliterat bereits früh als Frischjünger. Er reiht sich somit selbstironisch in den Kanon der großen Autoren ein. Ganz im Sinne Stillers, der sich eine neue Identität schuf, ästhetisiert Rinke dazu den Brief und sich selbst, wenn er dessen Entstehungsgeschichte umgestaltet.
Der Brief an Max Frisch ist demnach ein Medium der Selbst(er)findung, bei der sich der Verfasser schon zu Studienzeiten von seinen Vorbildern abnabelt und eigene literarische Wege geht. Oder wie Rinke selbst in der SPIEGEL-Kolumne schreibt: „Plötzlich las sich alles wie ein Aufruf, das eigene Leben möglichst selbst zu erfinden.“
Literatur:
Rinke, Moritz: Im Stundenhotel mit Max Frisch. In: Rinke, Moritz : Erinnerungen an die Gegenwart. Köln: Kiwi-Verlag 2014, S. 167-169 und in DER SPIEGEL: Moritz Rinke über Max Frischs „Stiller“: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/55854281
Rinke, Moritz: Brief an Max Frisch. Gießen 1989. – In: Vorlass Moritz Rinke. Sammlungen der Universitätsbibliothek Gießen.
Rinke, Moritz: Rinke über Wieseck. In: Literarischer Stadtführer Gießen.
https://germanistik-magazin-jlu.de/literarischer-stadtfuehrer-durch-giessen/moritz-rinke/moritz-rinke-ueber-wieseck/