Was sind die Schwerpunkte der Professur, an der ich arbeite?

Prof. Dr. Cora Dietl


Die Denomination meiner Professur lautet „Deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalter und Frühe Neuzeit“. Sprich: Ich bin für 1300 Jahre deutsche Literaturgeschichte zuständig (so heißt auch eine Vorlesung, die ich ab und zu gebe), aber in der Regel reichen mir die ersten 1000 Jahre davon, nämlich Mittelalter und Frühe Neuzeit.

Für welche Themenbereiche schlägt mein Herz besonders?


Meine individuellen Schwerpunkte liegen im Bereich der höfischen Epik des Hoch- und Spätmittelalters (v.a. der Artusepik) und im Bereich des Dramas des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In diesen Bereichen habe ich auch seit 13 Jahren Führungspositionen in verschiedenen internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften. Methodisch ist für mich eine Verbindung von Close Reading, Intertextualität und historischer Kontextualisierung und beim Drama von „Research through Performance“ wichtig. Ich möchte wissen, wie Literatur und Theater ihre Möglichkeiten einsetzten, um in die Gesellschaft und Politik hinein zu wirken. Begeistert bin ich immer, wenn ich  auf handschriftliche Notizen aus der Zeit stoße (Lesarten in Codizes, Annotationen in Drucken, archivalische Dokumente), die meine Interpretation stützen.

Was hat mich zum Germanistikstudium gebracht?


Das Charisma eines Professors – meines späteren Doktorvaters und Habilitations-Betreuers (Walter Haug). Schon den Leistungskurs Deutsch hatte ich nur wegen des Lehrers gewählt; aus Leidenschaft zum Fach hatte ich meinen anderen Leistungskurs gewählt: Mathematik. Ich wollte auch Mathematik studieren. Ein Professor aus der Biomathematik aber machte den Fehler, dass er mir in seiner Sprechstunde sein Fach in schillernden Farben beschrieb und, als meine Augen glänzten, mich eiskalt abkühlte, indem er anmerkte, die meisten seiner Abgänger seien Versicherungsmathematiker geworden. Das reizte mich nun gar nicht. Auf den Gedanken, dass ich an der Universität bleiben könnte, kam ich nicht, und so probierte es mit der nächsten Idee: Ägyptologie und Chemie, denn mir schwebte die Mumienforschung vor. Noch vor dem mündlichen Abitur besuchte ich ein Ägyptologie-Seminar und merkte, dass ich nach 14 Tagen Ägyptenreise mehr wusste als die Studierenden. Also gab ich auch den Plan auf. Der Besuch einer Vorlesung in der Germanistik war ein reiner Verzweiflungsakt – und da hörte ich eine grandiose Vorlesung von Walter Haug über Wolframs „Parzival“ und es war um mich geschehen.

In diesen Themenbereichen gebe ich gerne Seminare …


Ich gebe eigentlich sehr gerne die Einführung in die Grammatik des Mittelhochdeutschen und die Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen, aber seitdem ich in Gießen bin, muss ich das normalerweise dem Mittelbau und der Sprachgeschichte überlassen. Für fortgeschrittene Studierende (wenn sie denn in der Mediävistik fortgeschritten sind), gebe ich sehr gerne Seminare zu je einzelnen großen Romanen des Mittelalters, sehr gerne zu Artusromanen, weil man da Close Reading und den Blick auf die Gesamtstruktur des Romans verbinden kann. Im MA-Bereich biete ich gerne Seminare im Kontext von laufenden oder geplanten Forschungsprojekten an, oft auch mit Osteuropabezug (und das heißt zu eher entlegenen Texten), da ich im GiZo assoziiert bin. Schließlich habe ich bis vor einem Jahr immer sehr gerne Theater-Projektseminare angeboten, die dem „Research through Performance“-Ansatz verpflichtet waren. Ich stand kurz vor der Aufführung immer knapp vor dem Nervenzusammenbruch, wenn niemand seinen Text beherrschte, aber das Adrenalin beim Auftritt machte alles wieder gut. Hoffen wir, dass diese Seminare nach Corona wieder möglich sein werden.

5 Bücher für die einsame Germanistik-Insel …


Ich nehme mal an, dass man es ein Weilchen auf der Insel aushalten muss. Ich wollte schon immer mal Albrechts „Jüngeren Titurel“ übersetzen, der wunderschön, aber sprachlich wirklich anspruchsvoll ist. Das wäre die Gelegenheit. Lesen wollte ich schon immer mal den deutschen „Amadis“, auch wenn Don Quijote bei der Lektüre des spanischen „Amadis“ wahnsinnig geworden ist. Wenn dann noch Zeit übrig ist, bevor die Insel geflutet wird, würde ich gerne noch einmal Thomas Manns „Joseph“-Trilogie in aller Ruhe durchlesen – ohne den Druck, bis zum nächsten Tag eine Vorlesungssitzung dazu hinzubekommen zu müssen.

Mein/e Lieblingsheld*innen in der Literatur?


1. Gawein – der ideale Ritter des Artushofs, der trotz aller Idealität, höfischer und diplomatischer Bildung und Einfühlsamkeit allzu menschliche Schwächen hat.
2. Gahmuret – der Vater des reichlich dummen Parzival, ein Held, der das Beste daraus macht, dass er als Zweigeborener nichts erbt und der problemlos die Grenzen zwischen Ost und West überwindet und als Christ bester Freund des Sultans ist.
3. Schionatulander – der eigentliche Held des „Titurel“, der das Treueverhältnis Gahmurets zum Sultan fortsetzt und der auf der anderen Seite ein blind treuer Liebhaber ist und alles tut, um es seiner Geliebten Sigune zu ermöglichen, einen Roman, den sie verlor, fertigzulesen, und dabei stirbt.
4. Sultan Saladin – in verschiedenen Werken des Mittelalters (z.B. in der „Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwig“), in der Romantik noch einmal („Ivanhoe“) zum Ideal des „edlen Heiden“ stilisiert: Ritterlichkeit, Menschlichkeit, Respekt und Gerechtigkeit sind für ihn so viel wichtiger als religiöse Konflikte und die Gründe für den Krieg zwischen Christen und Moslems.
5. Don Quijote, der durch die Lektüre von Ritterromanen wahnsinnig wird und der versucht, die Ideale von Ritterlichkeit in einer höchst unritterlichen Welt umzusetzen.

Wer ist mein/e Lieblingsschriftsteller*in?


Wolfram von Eschenbach, der auf grandiose Weise Doppeldeutigkeit und Eindeutigkeit verbinden kann, der ein Meister der Ironie ist und der virtuos die Möglichkeiten der Literatur ausnutzt, um u.a. nach dem Sinn der Kreuzzüge zu fragen.

Worauf legen Sie bei Ihren Studierenden besonders Wert?


Ich möchte v.a. Studierende haben, die eine wissenschaftliche Neugier zeigen. Sie sollen offen sein für Neues, sollen etwas lernen und erfahren wollen. Hierzu gehört auch das Sich-Einlassen auf andere Epochen, andere Kontexte, andere Sprachstufen. Eng damit verbunden ist natürlich ein Wille, etwas zu leisten, etwas zu lesen, etwas herauszufinden. Ich wünsche mir selbstständige Studierende, die selbst ein Hauarbeitsthema entwickeln und selbst dazu Literatur finden und die ihre eigenen Positionen gegen die Forschungsliteratur verteidigen. Schließlich erwarte ich auch, dass sie sich in verständlichem und korrektem Deutsch äußern und ihren Leser durch die Hausarbeit führen können.

Was fasziniert Sie an Sprache besonders?


Mich fasziniert die Vielschichtigkeit und die kulturelle Gebundenheit von Sprache; es gibt ja viele Dinge, die sich z.B. nur auf Deutsch und nicht auf Englisch, nur auf Mittelhochdeutsch und nicht in modernem Deutsch, nur im Dialekt und nicht in der Schriftsprache sagen lassen. Die literarische Sprache geht noch weiter, denn vieles, was in der Alltagssprache oder gar der Wissenschaftssprache als falsch oder mangelhaft beschrieben würde, ist in der literarischen Sprache ein Kunstmittel. Literarische Sprache kann solche Irregularitäten gezielt einsetzen; sie spielt mit Assoziationen, Doppeldeutigkeiten, Klangelementen, um verschiedene Angebote, den Text zu lesen, zu erzeugen. Während eine Äußerung in der Alltagssprache irgendwann ihren Zweck erfüllt hat, kann literarische Sprache Jahrhundert für Jahrhundert neu gelesen werden und erzeugt immer wieder neuen Sinn.