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Von Vivien Müller

Auf den Tischen der Schüler*innen liegen Steine und Stöcke anstelle von Mäppchen und Heften. Die Lehrkraft beginnt den Unterricht mit den Worten: „Guten Appetit”. Die Klasse 3 / 4 der Mosaikschule in Marburg liest aktuell die Geschichte des Sams, das gerne Stöcke und Steine isst. Die Besonderheit: Es handelt sich um eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. Die Kinder weisen eine geistige Behinderung auf.

„Guten Appetit“ – vor dem Sams ist nichts sicher, auch nicht das Lehrerpult von Frau S. Gekonnt spielerisch führt sie ihre Schüler*innen an die beliebte Kinderbuchfigur heran. Quelle: https://pixabay.com/de/photos/%C3%A4pfel-b%C3%BCcher-schule-tafel-bildung-2276269/, Foto: stevepb

Zur Veranschaulichung und Verdeutlichung des Inhalts teilt die Klassenlehrerin Larissa S. Gegenstände aus. Damit nutzt sie den methodischen Ansatz des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts. Hier wird dem Inhalt von Texten spielerisch begegnet, um ihn grundsätzlich zu verstehen.

Aufgrund von Heterogenität und Inklusion stehen Lehrer*innen jeglicher Schulformen immer mehr vor der Herausforderung, den vielfältigen Lernvorraussetzungen gerecht zu werden. An Regelschulen fällt die Differenzierung häufig schwer und die Schüler*innen müssen alle am gleichen Unterricht teilhaben und diesem folgen. Außerdem herrscht Druck, da der Lehrplan in einem bestimmten zeitlichen Rahmen abgearbeitet werden muss. 

An Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind die Lerngruppen heterogen und Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben werden sehr kleinschrittig und in längeren Phasen erlernt. Die Gruppen sind mit 5-8 Kindern im Vergleich zu Regelschulen mit über 20 wesentlich kleiner. „Eine zeitliche Vorgabe habe ich nicht, es wäre schön, wenn wir mit dem Sams bis zu den Sommerferien fertig werden”, meint die Lehrkraft. Allein der Leistungsstand und die Entwicklung der Schülerschaft gelten als Orientierungsrahmen. In den Richtlinien für Unterricht und Erziehung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gibt es die Vorgabe, dass Schüler*innen Sprache und Schrift kennenlernen, um Interessen zu entfalten und mit der Umwelt in Kontakt zu kommen. Auch eine Annäherung an Literatur soll erfolgen. Hier wird die Wechselwirkung von Lesen und gesellschaftlicher Teilhabe deutlich. Diese ist vor allem bei Menschen mit Behinderung oft eingeschränkt. Ein weiteres Ziel, welches nach Möglichkeit angestrebt werden soll, ist das Lesen als Freizeitbeschäftigung.

Der Deutschunterricht findet regelmäßig in der ersten Stunde statt. Entsprechend des Leistungsstandes werden Lerngruppen gebildet. Trotzdem würden ,,eine hohe Heterogenität und unterschiedliche Leistungsstände bestehen”, betont Larissa S. In dieser Klasse unterrichten aktuell drei Lehrerinnen, Larissa S. ist hauptsächlich für den Deutschunterricht zuständig. Aktuell liest und bearbeitet sie das Buch Eine Woche voller Samstage des bekannten Kinderbuchautos Paul Maar. Sie betont die Wichtigkeit, die Literatur auf spielerische Weise zu bearbeiten. Der Fokus liege darauf, den Text zu verstehen. Als Grundlage nutzt die Lehrerin daher eine Ausgabe in leichter Sprache. Es werden nur die wichtigsten Inhalte in kurzen und einfachen Sätzen wiedergeben. Nach Aussagen der Lehrerin würden sich die Lesefähigkeit der Schüler*innen auf einige kurze Wörter beschränken. Daher gibt es zusätzlich ein kindergerechtes Hörspiel. Die Kinder hören gespannt zu, während das Sams singend von seinen Erlebnissen berichtet. Das Einstiegslied singen alle lauthals mit.

Genutzt wird außerdem die Methode des darstellenden Spiels. „Die Kinder sollen sich in die einzelnen Rollen versetzen und so nochmal mehr den Inhalt verinnerlichen”, begründet Larissa S. ihr Vorgehen. Passend zum Sams hat sie eine rote Perücke dabei. So wird der zuvor bearbeitete Inhalt szenisch dargestellt.

Am Ende des Kapitels sollen die Schüler*innen überlegen, wie es weitergehen könnte. Ihre Ideen werden aufgenommen. In der folgenden Stunde erfahren alle, wie es weitergeht. Die Schüler*innen können so nochmal ihre Überlegungen hören und mit dem Fortgang im Buch vergleichen.

Eine Lehrerin aus einer höheren Klasse berichtet von einem Zwiespalt zwischen Leistungsstand und vorhandener Literatur. Demnach würden sich die Schüler*innen im Alter von 14 bis 18 Jahren nicht mehr für die typischen ,,Kinderbücher” interessieren. „Krimis sind hoch im Kurs, doch zu kompliziert geschrieben und teilweise ist die Thematik doch zu krass für die Schüler. Doch muss die Literatur irgendwo auch dem Interesse der Schüler entsprechen, um sie zum Lesen zu motivieren.” So wurde die Lehrerin selbst zur Co-Autorin:  Sie hat einen Krimi als Vorlage genutzt, um einen passenden Text für ihre Klasse zu entwerfen. Den Inhalt hat sie stark gekürzt, die Sätze vereinfacht und die Thematik an den schulischen Alltag der Klasse angepasst. Das Hauptthema war ,,Lügen und Streit”.

Insgesamt suchen die Lehrkräfte vielfältige Wege, damit der Unterricht auf die individuellen Leistungen abgestimmt ist und die Schüler*innen „mit Spaß lernen“, so Larissa S.