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Von Deborah Kresov

Eine Lehrkraft für kreative Schreibprozesse über die gar nicht so trockene, praktische Seite der Germanistik.

Das Studium der Germanistik hat den Ruf, trocken zu sein: Viel Theorie, wenig Praxis. „Das muss nicht so sein”, behauptet Victor Witte, seit April 2020 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Literaturwissenschaftliches Arbeiten ergänze sich mit dem praktischen Schreiben sehr gut. Das Geheimnis des Schreibens liege dabei vor allem in der persönlichen Wahrnehmung und einem Zugang zum Schreibprozess, den es zu finden gelte.

Eigentlich habe er ja Germanistik studiert, erzählt Victor Witte im Interview und grinst verschmitzt. Vier Semester seien es offiziell gewesen, ernsthaft studiert habe er jedoch gerade einmal zwei davon. Die Theorielast der Germanistik bewog ihn dazu, das Studium abzubrechen und sich am praktisch orientierten Literaturinstitut Hildesheim einzuschreiben. Dort machte er auch seinen Abschluss.

Anschließend nutzte er die Möglichkeit, vielfältige Erfahrungen zu sammeln: Ob als Autor, als Lehrbeauftragter am Literaturinstitut Hildesheim oder als Schauspieldramaturg des Ulmer Theaters – Witte probierte sich aus.

Mit seinem im Droemer Verlag erschienenen Roman Hier bin ich (2015) schaffte der aus Berlin stammende Schriftsteller ein vielfach gelobtes Debüt. Erzählt wird von dem Leben des Abiturienten Leo und den jugendlichen Kämpfen um Frauen und Prestige. Witte schreibt detailliert und realitätsnah, aber auch verstörend, der Protagonist Leo ist „kaltherzig, oberflächlich, privilegiert” und „extrem unangenehm” (Die Welt, 14. März 2015). Der Roman berühre wiederholt wunde Punkte, so berichten Rezensionen auf Amazon – die Geschichte um Leo und seine Sicht auf die Welt scheint so authentisch, dass es weh tut.

Zudem wirkte Witte ab 2015 dramaturgisch in Theaterstücken wie Ab Jetzt, Der Weibsteufel oder König Lear am Ulmer Theater mit.

Aktuell schreibt der 33-Jährige an seinem zweiten Roman und plant zudem eine kleine TV-Serie mit einem befreundeten Autor.

Darüber hinaus ist es ihm wichtig, Kurse zur kreativen Sprachpraxis anzubieten. Seit April 2020 arbeitet Witte am Institut für Germanistik der JLU als Lehrkraft für besondere Aufgaben. Dort unterrichtet er kreatives Schreiben. Das Dozieren macht ihm Spaß: „Ich mag es, zu sehen, wie Studierende sich weiterentwickeln”. Dieser Leidenschaft für die Lehre ging Witte bereits während seiner Studienzeit in Hildesheim nach. Dort gab er Seminare zum Thema Textproduktion. „Forschung findet während der Lehre statt”, sagt Witte und erklärt, dass es in den verschiedenen Arten, einen Text zu schreiben, immer wieder Neues zu entdecken gebe. Kreatives Schreiben, so Witte, sei dabei für ihn mehr „die Technik selbst, das handwerkliche Schreiben” als eine „esoterische Form des Schreibens” oder eine „Technik zur Selbstfindung”.

In seinen Praxisseminaren geht er vor allem der Frage nach, wie das Schreiben wahrgenommen wird und wie man ein Bewusstsein für den eigenen Schreibprozess entwickeln kann. Eine seiner Lieblingsaufgaben sei: „Schreib‘ mal los”. Während eines Spaziergangs sollen die Kursteilnehmenden sich zu allem, was sie unterwegs um sich herum wahrnehmen, Notizen machen. Die Ergebnisse seien so vielfältig und individuell wie die Menschen selbst: Manche sprechen in ihr Handy, andere schreiben lange Texte. Dabei kristallisiere sich bereits zu Beginn heraus, ob jemand eher literarisch oder nüchtern veranlagt sei, auf welche Themen sich eine Person fokussiert und ob sie dabei bestimmte Sinne präferiert –  visuelle Eindrücke, auditive oder die Haptik etwa.

Um den Studierenden einen ersten Zugang zum Schreiben zu geben, wählt Witte in seinen Kursen Textformen, die den Einstieg erleichtern. So findet im Wintersemester 2020 beispielsweise das Seminar „Formen des Notats” statt, in welchem die Teilnehmenden sich mit Notizen und der Frage beschäftigen, wie Autor*innen schreiben. Als Lernmaterial nutzt Witte schriftliche Äußerungen, in denen die jeweiligen Schriftsteller*innen jeden noch so geringen, wahrgenommenen Sinneseindruck notiert haben. Als Beispiel für einen solchen Text führt er den Schweizer Fotografen Peter K. Wehrli an: Er vergaß auf einer Reise seine Kamera und beschloss alles, was er eigentlich fotografiert hätte, in schriftlichen Bildern festzuhalten. „So etwas schauen wir uns an – das sind sehr unterschiedliche Notatformen”, erklärt der 33-Jährige und erläutert: „Dann analysieren wir die [Notizen] und im Folgenden gibt es eine Schreibaufgabe, sodass die Studierenden selbst diese Formen ausprobieren.” Die Notiz sei als Einstieg deshalb so gut geeignet, weil sie nicht vorgebe, ein fertiger Text zu sein, so Witte. Dadurch sei die Hürde, diese Art des Schreibens selbst auszuprobieren, sehr niedrig.

Witte sieht seine Seminare als gute Ergänzung zum ansonsten stark literaturwissenschaftlich geprägten Germanistikstudium. Die Ausschreibung der Position als Lehrkraft für besondere Aufgaben sei ein Glücksfall gewesen. „Es kommt selten vor, dass Praxis gefordert wird”. In diesen raren Fällen habe man die Möglichkeit, Inhalte wie „Was passiert in der Literatur gerade?”, „Was passiert beim Leseprozess?” oder auch „Welchen Weg geht ein Text bis zu seiner Veröffentlichung?” zu behandeln.

Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt Witte sich sowohl in seinen Seminaren als auch privat. Allerdings, so räumt Witte ein, stieß das Lehrangebot zum kreativen Schreiben, lange auf die Vorbehalte, „zu sehr nach Schema zu schreiben und es selbst nicht richtig gelernt zu haben”.

Eine zentrale Frage sei daher, wie eine solche akademische Ausbildung an speziellen Hochschulen wie dem Hildesheimer Schreibinstitut in der literarischen Öffentlichkeit gesehen werde. Es sei daher spannend, den beruflichen Weg der Schreibschüler*innen zu verfolgen. Derzeit fänden Alumni zunehmend den Weg in Verlage. Davon erzählt der Berliner auch manchmal in seinen Seminaren. „Aber eher weniger, denn die sind praxisbezogen.”