Hässlichkeit von Moshtari Hilal

Von Simon T. Schmidt

„Dieses Buch handelt vom Sehen und Gesehenwerden. Dieses Buch handelt von Hass in der Hässlichkeit und dem Abseits und Gegensatz des Schönen. Es beginnt bei mir und endet in uns allen.“ So beginnt die Performancekünstlerin Moshtari Hilal ihren Debütroman Hässlichkeit. Die Autorin setzt sich autobiographisch mit „Hässlichkeit“ auseinander. Dabei sprengt sie die starre Form der klassischen Vorstellung eines Romans – Hilal arbeitet mit Essays, lyrischen Passagen sowie Fotos und Collagen. In einem Interview stellt sie den Entstehungsprozess als ein „Abarbeiten“ dar. Sie nutzt verschiedene Medien, um ihr Selbst auszudrücken. Sie erzählt von dem Tag, an dem in der Schule Fotos gemacht wurden und sie sich mit Entsetzen auf den Bildern sah. Das junge Mädchen auf den Bildern fand sie abgrundtief hässlich, ein abstoßendes Monster mit schiefen Zähnen, einer viel zu großen Nase und einem langen, zu einer Grimasse verzogenem Gesicht. Sie schließt die Anekdote mit der vergeblichen Bitte an die Mutter, die Fotos nicht zu nehmen, diese packt sie in ihre Kommode und Hilal merkt an: „Nur eine Mutter konnte ein hässliches Kind lieben.“

1993 in Kabul geboren, immigrierte Hilal mit ihrer Familie nach Deutschland, als sie gerade zwei Jahre alt war. Nach ihrem Abitur kehrte sie in die Heimatstadt ihrer Eltern zurück und sammelte Erfahrungen in der dortigen Künstler*innenszene. Anschließend studierte Hilal Islamwissenschaften mit Schwerpunkt auf Gender und Dekolonialen Studien. Ihre künstlerischen Arbeiten beschäftigen sich mit Gesichtern und den Sehgewohnheiten der westlichen Gesellschaft. Schwerpunkte sind dabei Sexismus, Rassismus sowie Antisemitismus und was Menschen unter westlichem Blickwinkel als ‚schön‘ oder ‚hässlich‘ empfinden. In ihren Werken werden immer wieder diese Normen hinterfragt und ein Selbstverständnis dekonstruiert und historisch kontextualisiert. In Zusammenarbeit mit ihrer Schwester Zuhra Hilal betreibt sie das „Studio Hilal“, ein Designprojekt, das sich mit Drucken auf Textilien an der Schnittstelle von Kunst und Mode befasst. Weiterhin ist sie seit Februar 2021 Ko-Kuratorin einer Gesprächsreihe mit dem politischen Geografen Sinthujan Varatharajah, in der in diversen Formaten gesellschaftspolitische Themen besprochen werden.

Die Künstlerin bindet dabei, ohne diese Fakten explizit zu nennen, ihren Werdegang in ihr Werk mit ein. Es ist eine Geschichte des Andersseins, des Anders-Gemacht-Werdens und des Sich-fehl-am-Platz-Fühlens. Spezifisch drückt sie eben all diese Aspekte in ihrer vermeintlichen „Hässlichkeit“ aus und wirft die Frage auf, was Schönheit eigentlich ist. Die Empfindung bleibt dabei aber nicht als Selbstwahrnehmung stehen. Viel mehr wird verhandelt, wieso man von anderen als schön empfunden werden will und wie ein Idealbild eines Menschen sozial und zeitlich konstruiert ist. Hilal merkt dazu an, dass ihr Werk „auch von Blicken (handelt). Von unseren Blicken und wie diese sich andere einverleiben und wie Blicke Teil unserer Körper werden.“ 

Gesichter Lesen

Bevor ich den Raum betrete, tritt meine Nase ein.

Sie wirft einen Schatten, der mich verschlingt.

In Schwarz gehüllt, blicke ich aus ihm hinaus.

Wer sieht mich hinter dieser Säule.

Ein Versteck für meine Zärtlichkeit,

niemand errät mein sanftes, schüchternes Lächeln

im Schatten eines Kolosses, der mich verhindert.

Mein Schulterblick, der mit ihrem Lanzenstoß beginnt,

verhindert, dass meine freundlichen Augen sich vorstellen.

Ein Kuss, der sich im Schatten, der Nase verliert.

Ein Schädel, der sich in seiner Krümmung verbeugt,

zwei Enden aufeinandertreffen lässt.

Ein Ellbogen, der von einem Kinn,

einer Nase nicht zu unterscheiden ist.

Ein Winkel, der einen Schatten wirft.

Ein Mensch, halb Nase.

(Hilal 2023, S. 59)

Besonders konzentriert sich die Autorin in ihren Bildern und Texten auf den Mittelpunkt fast jeden Gesichts – die Nase –, aber auch auf Behaarung, lange Beine, weiße Zähne und Finger. Die jugendliche Protagonistin in Hässlichkeit malt sich dabei aus, wie sie gerne aussehen würde. Ein Ideal wird erschaffen, dem sich der eigene Körper, das eigene Sein unterzuordnen hat.  Die Auseinandersetzung mit ihrem Selbstbild als nichtweiße Frau in Deutschland funktioniert dabei nicht nur als individueller Erfahrungsbericht. So zeigt sie auf, dass in der Wissenschaft zurückdatiert werden könne, wann bestimmte Schönheitsbilder entstanden seien. Viele davon hätten mit der Geschichte, mit Kolonialismus und mit Machtverhältnissen zu tun. Ihr sei es wichtig gewesen, in ihrem Buch aufzuzeigen, woher unsere Vorstellungen von Schönheit und Hässlichkeit kommen und „wie unsere Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die als hässlich markiert werden“. Sie berichtet von Jacques Joseph, einem der ersten plastischen Chirurgen, der Anfang des 20. Jahrhunderts „jüdisch wirkende Nasen“ operierte, von Mitschülern, die ethnische Zugehörigkeit anhand von Nasen erkennen könnten und der Tradition der perfekten Nase bis in die Antike.

Auch aktuelle Phänomene des digitalen Zeitalters thematisiert Hilal. Die „Nasenprofil-Challenge“ die auf der Social Media Plattform TikTok trendete, bei der Partizipierende anhand ihres Daumens zeigen können, ob ihre Nase ‚perfekt‘ ist oder eben nicht, zeigen eine ganz neue Spielart des Schönheitskultes. Standards, die sich auch in früheren Zeiten – vor allem für weibliche Personen – schnell änderten, sind in der digitalen Gesellschaft nun noch kurzlebiger und erreichen ein globales Publikum. Dies führt zu absurden Schönheitseingriffen, wie das Angleichen des eigenen Selbst an einen digitalen Filter.

Ungeschönt und nachempfindbar stellt Hilal ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem eigenen Sein dar. Man taucht ein, in ein allzu bekannt scheinendes Gefühl der Heranwachsenden, sich mit sich selbst und dem eigenen Körper unwohl zu fühlen. Dies gelingt ihr, ohne zu psychologisieren oder den Empfindungen einen pathologischen Grund zu geben. Schrecklich, wundervoll nachvollziehbar und ein Gewinn an Selbsterkenntnis.   

Hässlichkeit, Autorin: Moshtari Hilal, Verlag: Carl Hanser Verlag, Erscheinungsdatum: 04.09.2023, 222 Seiten, 23 EUR, ISBN: 978-3-446-27682-6