Ich wohnte in Wieseck, Gießener Straße 97a, bei Familie Seim zur Untermiete. Mein Fenster wies auf eine gebrannte Wand, die an einen Schuppen grenzte, in der Großvater Seim seine Würste räucherte. Manchmal stand er mit seinen Würsten im Hof und sah neugierig durch mein Fenster, wenn ich Besuch von Kommilitoninnen hatte. Schräg gegenüber gab es einen Gastwirt mit einem Billardtisch, weiter vorne auf der Straßenseite die Volksbank, in der ich mein erstes Konto einrichtete, damals ging man noch in die Bank, wenn man etwas wollte. In entgegengesetzter Richtung, die Gießener Straße runter in Richtung Philosophenweg, war die Wiesecker Eisdiele.
Ich erinnere mich an einen Tag im April 1991. Nachts war ein Besoffener in mein erstes Auto gefahren, einen alten Volvo D 240, den mir mein Vater geschenkt hatte, er gehörte vorher ihm. Der Besoffene war einfach in den stehenden Volvo gefahren, danach hatte ich keinen mehr. Ich erinnere mich, dass es mir in dem Augenblick egal war, weil ich eigentlich schrecklichen Liebeskummer hatte. Dem einzigen, dem ich meinem Liebeskummer mitzuteilen gedachte, war nicht mein Vater am Telefon oder Großvater Seim, der an diesem Morgen wieder mit seinen Würsten in Hof stand, sondern der Schriftsteller Max Frisch. Frisch war mein Vorbild, er hatte Liebesromane, Eheromane geschrieben, und es gab meiner Meinung nach keinen, der mich in diesem Augenblick besser verstehen würde. Als ich den Brief geschrieben hatte, steckte ich ihn in einen Umschlag und adressierte ihn mit „Max Frisch, Suhrkamp-Verlag“.
Auf dem Weg zum Briefkasten am Kiosk neben der Eisdiele sah ich die „Gießener Allgemeine“ mit der Nachricht oben links: „Max Frisch verstorben“. Ich setzte mich mit meinem Brief in die Eisdiele und sah am Nebentisch einen Mann, der freundlich aussah und konzentriert in einem Buch las, worüber er fast den Eisbecher vor sich vergaß. Er war kein junger Student mehr wie ich, sondern wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft. Ich erzählte ihm von meinem Liebeskummer.
Ein paar Wochen später sah ich ihn wieder, er sah rechtlich förmlich aus. Er trug einen lilafarbenen Anzug und war gerade zum Doktor ernannt worden, die Arbeit lag neben dem Eisbecher: „Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit.“
Jahre später traf ich diesen Mann im Bundeskanzleramt in Berlin wieder. Gerhard Schröder hatte Künstler ins Kanzleramt gebeten, ich hatte dort eine Lesung mit Republik Vineta. Verantwortlich für den Ablauf war der Kanzleramtschef, es war der Mann aus der Eisdiele. Er hieß Frank-Walter Steinmeier.
Manchmal, wenn wir uns im Schloss Bellevue sehen, sprechen wir noch über Wieseck und die guten alten Eisbecher.