Der Vorlass - Etwas Rinke bleibt Gießen auch heute

Hätte die städtische Architektur Rinke auch nie in Gießen halten können, so kommt er doch immer wieder zurück. Denn dank der Bemühungen von Literaturwissenschaftler Kai Bremer befindet sich Rinkes Vorlass seit 2015 in Gießen. Student*innen erhalten hier die Chance, in die Arbeitswelt des Autors einzusteigen und zum Beispiel frühe Fassungen seines Bestsellerromans Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel zu untersuchen – oder Liebesbriefe. „Manchmal denke ich schon, um Gottes Willen, wer hat denn den gelesen“, kommentiert das Rinke im Weser-Strand-Interview und schlägt die Hand vor die Augen.

Siehe auch: Über den Vorlass von Moritz Rinke (Podcast + Transkript)

Quelle:

Alumnis der JLU Gießen: https://www.uni-giessen.de/fbz/zentren/zfbk/alumni/karrierewege/kulturundsport/rinke (29.06.2021)

Weser-Strand (2018): Zu Gast: Moritz Rinke. Episode 11. Moderator: Axel Brüggemann. https://www.youtube.com/watch?v=ebc_mv1diWA (29.06.2021)

Vorlass Moritz Rinke: http://www.ub.uni-giessen.de/ueber-uns/sam/nachlaesse/mrinke

Ja, super gerne! Hallo auch von mir, ich bin aktuell Dozentin an der JLU und gebe ein Seminar zu Rinke, aber eigentlich hat das Ganze mehrere Jahre vorher angefangen. Da war ich nämlich selbst noch Studentin und hatte ein Seminar zu Rinke belegt gehabt und hab dort den Vorlass miterschlossen und der Dozent kam auf mich zu, Kai Bremer, und fragte, ob ich nicht Interesse hätte, weiter daran zu arbeiten als Hilfskraft und da sagt man natürlich ja. Und dann hab ich quasi erst als Hilfskraft gearbeitet und dann hab ich selbst ein Seminar dazu gegeben, als ich meinen Master hatte, und hab das Ganze mit den Studierenden fertig erschlossen und dann 2018 an die UB, also an die Universitätsbibliothek, übergeben. Also ich bin da mehr oder weniger reingestolpert.

Ja, das ist so eine klassische Frage, gerade mit Vorlass, das ist ein bisschen unbekannter. Nachlass ist ja eine archivwürdige Materialsammlung, also etwas, was man aufheben möchte von einer Person. Das wollen wir hier in dem Sinne nicht haben, weil wir ja hoffen, dass Rinke noch möglichst lange lebt. Deswegen kein Nachlass, sondern ein Vorlass, also etwas, was zu Lebzeiten abgegeben wird und das ist natürlich total interessantes Material, einfach für Forschende insgesamt, aber eben auch für zukünftige Forschende und deswegen wurde sich auch dafür entschieden, das Ganze als Vorlass jetzt schon aufzunehmen, anstatt zu warten und zu sagen, Rinke soll das Ganze noch weiter sammeln und dann erst an die UB geben, also zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens, einfach weil man jetzt schon daran arbeiten kann. Also sowohl für Dozenten wie mich sehr praktisch, wo man jetzt schon Seminare machen kann, damit Studierende hautnah mit so Material auch arbeiten können von echten Autoren, aber auch praktisch für die Studierenden, weil das natürlich total lebensnah sein kann, je nachdem, in welchem Beruf sie später arbeiten möchten, dass sie Erfahrungen haben mit solchen Materialien. Und auch einfach schlichtweg ein schnellerer Forschungszyklus, also wenn zum Beispiel jemand hierher kommt und zu Rinke forschen will, dann hat er jetzt schon jede Menge Material zur Verfügung und kann jetzt schon Aufsätze dazu schreiben und publizieren. Das ist natürlich viel, viel schneller als wenn man wartet bis zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ein Autor zum Beispiel 60, 70, 80 ist oder einen Nachlass zu übergeben hat, weil dann ist er natürlich schon tot und dann dauert es wieder ein paar Jahre bis überhaupt dazu geforscht wird. Also es ist einfach sehr, sehr viel wert, dass wir einfach schon zu einer so frühen Phase so viel Material von einem Autor zur Verfügung gestellt bekommen.

Also was ich mir so vorgestellt habe, als ich mir das Material angeschaut habe, war alles, was auf dem Schreibtisch eines Autors liegen könnte und was er mit einer Handbewegung in eine Kiste befördern kann. Also da ist wirklich alles dabei. Da sind Manuskripte dabei, logischerweise, was natürlich auch ganz besonders toll ist zu sehen. Da sind aber auch Recherchen dabei, Wikipedia-Artikel, die ausgedruckt wurden, fertige Produkte wie zum Beispiel Kolumnen, die ja Rinke auch geschrieben hat, Briefverkehr und Ähnliches, Flyer, riesige Poster von seinen Theateraufführungen, Zeitungen über Rinke, also Artikel über Rinke und natürlich alles, was sonst noch so auf deinem oder meinem Schreibtisch rumfliegen würde, also von Kassenbons über irgendwelche schrägen E-Mails zu sonst noch irgendwas.

Also da sind so einige Sachen logischerweise irgendwie drin gewesen. Was mich ein bisschen gewundert hat, waren zum Beispiel zwei Halbedelsteine, die wir darin gefunden haben. Was für mich als Otto Normalverbraucher merkwürdig war, war Fanpost logischerweise, was für einen Autor vielleicht schon wieder ganz selbstverständlich ist. Aber ich glaube das Allerschrägste für mich persönlich war eine ungefähr daumenlange Schraube mit so einer Mutter oben dran. Und als archivierende Person fragt man sich dann natürlich schon, was das sein soll. Tatsächlich wären wir sonst nie auf die Lösung gekommen, hätte Rinke hier keine Lesung beim Literarischen Zentrum Gießen gehabt, wo wir dann auch solche Fragen stellen konnten und wo er dann erzählte, dass diese Schraube zu einer Zeit gehörte, wo er bei der Bühnencrew mitgearbeitet hat. Ich hoffe, ich erinnere mich richtig. Da gab es wohl einen Thron, der auf der Bühne festgemacht werden sollte mit eben diesen Schrauben und der Schauspieler würde darauf herumzappeln, also sich ganz furchtbar bewegen, energetisch, und deswegen musste dieser Thron unbedingt ganz besonders festgemacht werden. Und wie das so jetzt wohl zu erahnen ist, was die Pointe ist, Rinke, der ja zu dieser Bühnencrew gehörte, hat sie wohl nicht so fest zugemacht und hat daraufhin wohl einiges an Ärger bekommen, ich drücke das mal so freundlich aus. Und so hat er sich wohl diese Schraube aufbewahrt als Erinnerungsstück und die wiederum landete dann bei uns in den Archivkisten. Also ich würde sagen, diese Schraube ist eine der absolut schrägsten Sachen, die im Vorlass zu finden sind.

Ja also, wenn man Bibliothek sagt, logisch, irgendwie würde man denken, man geht einfach an ein Regal und leiht sich das aus. Aber eine Bibliothek bewahrt tatsächlich auch oder kann viel mehr aufbewahren als ausleihbare Bücher. Das läuft hier unter dem Begriff ‚Sondersammlung‘, das sind Materialien, Vorlässe, Nachlässe – über 100, das habe ich vorhin nachgeschaut, um mal auch einen Fakt anbringen zu können – die hier gesammelt werden. Man rechtfertigt das so, dass das Materialien sind, von Menschen, die einen besonderen Bezug hier zu Gießen und zu der Uni haben. Also ehemalige Biologen oder Sprachwissenschaftler oder Ähnliches, die haben ihre Materialien an die Universitätsbibliothek gegeben und das wird als Nachlass in den Sondersammlungen abgelegt und die Sondersammlungen sind dann natürlich nicht in normalen Regalen zu finden, sondern liegen dann natürlich hinter den Kulissen. Man kann aber sich mit dem Leiter der Sondersammlung in Kontakt setzen und anmelden, welche Sachen man sehen möchte, zum Beispiel man würde gerne Kiste 15.1 sehen wollen, weil man weiß, ah, da liegen natürlich die Manuskripte drin, das kann man auch vorher nachschauen. Und dann kriegt man einen Termin und geht in den Sonderlesesaal in der Universitätsbibliothek und bekommt dann so eine Kiste mal vorgesetzt und kann dann daran arbeiten. Aber leider – naja, was heißt leider – man muss sie dann dort lassen und so wird dann halt auch gewährleistet, dass diese Materialien natürlich auch für die nächsten 10, 20, 100 Jahre in dem Zustand bleiben, was man von Universitätsbibliotheksbüchern nicht unbedingt sagen kann.

Ja, also, Kiste ist jetzt erstmal, da kann man sich einiges drunter vorstellen. Ursprünglich wurde das als Umzugskiste auch hier angeliefert von Rinke. Ich glaube, das müssen ungefähr so 20 Kisten gewesen sein, da war ich noch nicht mit dabei. Das Ganze wurde dann logischerweise umgelagert. Ich sagte ja schon, das soll sehr lange aufbewahrt werden. Das muss also quasi lange stabil bleiben, wir kennen das vielleicht von Kassenbons oder von Büchern, die in der Sonne liegen. Die sehen dann immer schon nach ʼnem Jahr nicht mehr ganz so aus, wie sie mal ursprünglich ausgesehen haben. Das heißt, die werden umgepackt in sogenannte säurefreie Kartons. Das ist extra Material, was möglichst wenig mit dem Archivmaterial interagiert und die sind ungefähr so lang wie ein Unterarm, relativ breit, die können auch ordentlich schwer sein, also die armen Mitarbeiter haben ordentlich zu schleppen. Und ungefähr 70 davon liegen dann zusammen hinter den Kulissen im Magazin.

Wir sind alle keine Archivare, deswegen haben wir das alles irgendwie Learning-by-Doing gemacht, aber der normale Prozess ist: Nachdem das Ganze ordentlich weggepackt ist – man konnte sich entscheiden: sortiert man die Materialien, also zum Beispiel Manuskripte zu Manuskripten, Briefe zu Briefen. Wir haben uns dazu entschieden, quasi die Tektonik der Umzugskartons beizubehalten, weil darin natürlich auch eine Information liegt. Also was lag ursprünglich bei Rinke beieinander? Was gehört vielleicht zur gleichen Zeitebene oder ähnliches? Wir haben uns entschieden, das alles zusammenzulassen und die Umzugskartons auch in ihren Nummern beizubelassen. Also es gab zum Beispiel einen Umzugskarton Nummer 15, der wurde dann in Kisten 15.1, 15.2, 15.3 verarbeitet. Jetzt liegt da natürlich unfassbar viel Material und so einem Autor werden natürlich auch Belegexemplare zugeschickt. Also zum Beispiel wenn ein Theaterstück von ihm aufgeführt wird, dann schickt das Theater beispielsweise die Flyer zu dieser Spielzeit. Jetzt liegt da natürlich nicht ein Flyer, da liegen fünf bis zehn. Und jetzt steht man natürlich vor der Frage: Was macht man damit? Hebt man alle auf, falls mal einer verloren geht oder ähnliches? Das kostet natürlich auch viel Platz, wenn man sich überlegt, da sind jetzt 70 Kisten. Das heißt, Kai Bremer, der diesen Vorlass hierher gebracht hat und ihn in den ersten Jahren maßgeblich betreut hat – und immer noch betreut, muss man ja dazusagen, ich bin ja hier nur Stellvertreter quasi –, der ist ans Kassieren gegangen. Kassieren ist ein Fachausdruck, der aus dem Archivwesen stammt, wo man hingeht und solche doppelten, dreifachen, vierfachen Materialien aussortiert oder eben Materialien, die nicht als archivierungswürdig wahrgenommen werden. Das ist natürlich auch immer eine große Verantwortung, sowas zu machen, ne? Genau, also man ist das durchgegangen, hat die Sachen aussortiert, die dann halt zu zehnt dort drin lagen, sodass nur noch drei von jedem Stück dort drin waren, und dann ist man hingegangen und hat sich überlegt: Okay, nach welchem Muster erschließt man sowas? Erschließt heißt, man versucht irgendwie herauszufinden: In welcher Zeitspanne ist das Ganze entstanden? Welches Material ist da eigentlich drin? Was ist das Interessante daran? Welche Personen haben vielleicht noch mitgewirkt, dieses Material zu produzieren? Jetzt müsste man das irgendwie alles auf ein Dokument zusammenkriegen, aber wenn man das über drei Jahre macht, sehen die Dokumente natürlich alle unterschiedlich aus. Natürlich gibt es da Antworten aus dem Bereich des Archivwesens, unterschiedliche Erschließungsmuster. Wir haben uns entschieden – und jetzt muss ich nochmal grade nachschauen, weil ich das immer durcheinanderwerfe – das ist das RNA, das sind die Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen. Liegt ja logischerweise nahe, wie haben einen Vorlass, da hilft es, wenn wir Regeln haben, wo Leute sich schonmal Gedanken gemacht haben: Diese Infos wären vielleicht hilfreich zu erschließen, also Zeitraum, beteilige Personen, etc. Jetzt haben wir eben so ein RNA-Schema angelegt und über mehrere Jahre haben dutzende Studierende und wir das ausgefüllt und wir haben das Ganze zu einer Gesamtdatei kompiliert, die – ich glaube – ungefähr 600 Seiten umfasst. Also einiges an Information, die wir dann auch mitproduziert haben und die wurde dann 2018 fertig an die Universitätsbibliothek übergeben. 

Ja, also Überblick weiß ich nicht, ob ich das so bezeichnen würde, weil 600 Seiten sind nun wirklich nicht nutzerfreundlich. Die Idee ist auch, das irgendwann digital einzuspeisen in so eine Suchmaschine, aber das ist natürlich auch immer eine eigene Herausforderung. Auch, weil da natürlich Persönlichkeitsschutz zu beachten ist. Wenn wir angeben, welche Personen bei diesen Dokumenten mitgewirkt haben, bei Briefen oder Ähnlichem, dann muss man natürlich auch beachten, dass vielleicht nicht jeder unbedingt genannt werden möchte, dass er vielleicht Briefe zu Rinke geschrieben hat. Das muss man zumindest berücksichtigen. Außerdem ist das Dokument so in dieser Form natürlich noch ein Rohdokument, also das ist eine unglaublich lange Tabelle, die trotzdem sehr viel Information enthält, man muss sich aber ein bisschen reinlesen. Aber ich glaube für Leute, die sich mit Moritz Rinke beschäftigen wollen, ist das, glaube ich, immer noch Gold wert, weil solche Vorlässe oder Nachlässe werden oft sehr viel knapper erschlossen, als wir das hier gemacht haben. Das hätten wir natürlich ohne die Hilfe der Studierenden nie und nimmer in dem Umfang hinbekommen.

Ja, ich war nicht dabei, aber ich habʼ mir erzählen lassen, nein, umʼs wirklich mal konkret zu sagen: Ich würde sagen, es sind zwei Gründe gewesen. Einerseits, Rinke hat hier studiert, Angewandte Theaterwissenschaften, insofern hat er eh eine enge Beziehung zu Gießen. Also natürlich ist hier wahrscheinlich ganz viel Prägendes passiert mit den Professoren und Ähnlichem. Da verbinden einen viele Erinnerungen und wenn man sich überlegt, wo könnte man Material hingeben, liegt natürlich die eigene Universitätsstadt nahe. Andererseits hatten wir ja hier auch den Dozenten Kai Bremer, der mittlerweile in Osnabrück als Professor arbeitet, und die beiden kannten sich vorher schon sehr gut. Und dann, als die Frage im Raum stand, wohin mit dem ganzen Kram, da hilft es natürlich, jemanden zu kennen, der da die Hand hebt und sagt „Wir hätten eigentlich Interesse daran“. Also insofern, glaube ich, spielten da beide Seiten eine Rolle. Einerseits Rinkes ‚eh-schon-Kenntnis‘ von Gießen und andererseits Kai Bremers Initiative zu sagen, wir hätten auch wirklich Verwendung dafür.