Von Finn Heuper
Was ist das DEA?
Das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 (DEA) ist Teil der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Frankfurt. Eine wichtige Aufgabe des DEA ist, wie der Name schon sagt, das Sammeln und Archivieren von Nachlässen und Literatur von und über Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus Deutschland verließen und – zeitweise oder dauerhaft – ins Ausland emigrierten. Dabei geht es nicht nur um schriftliche Zeugnisse: Ein Nachlass kann alles Mögliche enthalten, beispielsweise auch Reisedokumente, Fotoalben oder Kinderspielzeug. Koffer gelten als Sinnbild des Exils, dementsprechend verfügt das DEA über eine ansehnliche Sammlung – auch, da einige Nachlässe das Archiv in Koffern erreichen.
Die kulturelle Vermittlungsarbeit stellt einen weiteren essentiellen Arbeitsbereich des Exilarchivs dar. Durch verschiedene Ausstellungen, sowohl im virtuellen als auch im realen Raum, Führungen und ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm wird Besucher*innen das Thema Exil nahegebracht. Dabei geht es trotz des historischen Schwerpunktes des DEA nicht nur um die Zeit des Nationalsozialismus. Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen und daran zu erinnern, dass auch genau in diesem Moment Menschen auf der Flucht sind und im Exil leben, ist wichtiger Bestandteil der Vermittlungsarbeit.
Durch zwei Exkursionen, die ich im Rahmen meines Studiums gemacht hatte, kannte ich das DEA zwar schon, doch auf die Idee, dass ich hier als Germanistikstudi ein Praktikum machen könnte, brachte mich erst meine Praktikumsbetreuerin. Anfang April bewarb ich mich und hatte wenige Wochen später ein virtuelles Bewerbungsgespräch mit Dr. Sylvia Asmus, der Leiterin, und Dr. Jörn Hasenclever, dem stellvertretenden Leiter. Wir sprachen darüber, was ich mir unter einem Praktikum im DEA vorstellte, welche Einblicke ich mir erhoffte und welche Aufgaben ich übernehmen würde. Als Zeitraum setzten wir sieben Wochen in den Sommersemesterferien fest.
Dass ich im Bachelor an der Justus-Liebig-Universität Gießen neben Germanistik auch Geschichte studiert und im Master den Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur gewählt habe, mag bei der Bewerbung hilfreich gewesen sein. Doch im Laufe des Praktikums kristallisierte sich in Gesprächen mit den Mitarbeitenden immer mehr heraus, dass es nicht ‚den einen Weg‘ gibt, im DEA oder einer ähnlichen Institution zu landen. Da das Exilarchiv so viele verschiedene Aufgabenbereiche bietet, die jeweils eigene Fähigkeiten und Kenntnisse erfordern, werden auch Mitarbeitende mit diversen Ausbildungen gebraucht.
Praktikum
Einführung: Ausstellungen, Nachlässe, Archivnutzung – erste Erkundungen
Am ersten Praktikumstag wurde ich von Frau Dr. Asmus und Herrn Dr. Hasenclever begrüßt, lernte die Mitarbeitenden kennen und erhielt von Herrn Dr. Hasenclever eine Einführung in die Arbeit des DEA. In den nächsten Tagen führten mich Kolleg*innen durch die Dauerausstellung zum Thema Exil und die Wechselausstellung zu Marcel Reich-Ranicki, dem bekannten Literaturkritiker. Bei diesen Führungen ging es nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Konzeption der Ausstellungen: Weshalb wurden genau diese Ausstellungsstücke gewählt? Inwiefern spiegelt der physische Raum die Inhalte wider? Wie funktionieren die Medienguides?
Auch im weiteren Verlauf des Praktikums bekam ich immer wieder Einblicke in die verschiedenen Bereiche des DEA und die Mitarbeitenden nahmen sich die Zeit, mir ihre jeweilige Arbeit zu erklären und meine Fragen zu beantworten. Unten in den beeindruckenden Magazinen, wo die Nachlässe und sonstigen Archivalien bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit lagern, erfuhr ich, wie ein neu eingetroffener Nachlass erschlossen, also aufbereitet, und anschließend katalogisiert wird.
Im Lesesaal lernte ich, welche Aufgaben der Bereich Benutzung umfasst: Wer Archivalien des DEA einsehen möchte, zum Beispiel zur Recherche für eine Hausarbeit oder aus persönlichem Interesse, bestellt diese sozusagen und kann sie am Ende im Lesesaal einsehen. Wie vielschrittig und (zeit)aufwendig der Prozess ist, der zwischen diesen beiden Ereignissen von den Mitarbeitenden bewältigt wird, und wie viele Anfragen das DEA erreichen, habe ich erst hier begriffen und kann nun sehr gut nachvollziehen, weshalb es eine Weile dauern kann, bis die bestellten Materialien eingesehen werden können. (Daher als Rat an alle, die die umfangreichen Bestände des DEA für Recherchen nutzen wollen: Fragt rechtzeitig an, das Warten lohnt sich auf jeden Fall!)
Auf andere Weise aufwändig ist die Arbeit im Bereich der Restauration. Hier werden beschädigte Archivalien restauriert, zum Beispiel ein Brief, der an den Faltstellen einreißt oder ein Buch, das auseinanderzufallen droht. Dabei ist wichtig, dass alle Schritte im Notfall wieder rückgängig gemacht werden können, da sich die Restaurationstechniken und Archivierungsmethoden beständig weiterentwickeln. Galt es vor wenigen Jahrzehnten noch als state of the art, gedruckte Archivalien zu laminieren, müssen diese Dokumente heute mühsam wiederhergestellt werden, da mittlerweile bekannt ist, dass die Laminierung nicht vor Zersetzung schützt.
Meine Aufgaben
Meine erste größere Aufgabe bestand darin, bei der Vorbereitung eines Vortrags zu helfen, den Frau Dr. Asmus Ende September bei einer Tagung der Gesellschaft für Exilforschung halten sollte. Das Thema der Tagung war Korrespondenz im Exil und Frau Dr. Asmus‘ Vortrag beschäftigte sich mit der Vernetzung exilierter Menschen, die von der American Guild for German Cultural Freedom unterstützt wurden oder werden wollten. Diese Organisation wurde 1935 von dem Publizisten und Journalisten Hubertus Prinz zu Löwenstein, der selbst aus Deutschland in die USA emigriert war, gegründet, um deutsche Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen im Exil zu unterstützen. Durch die Briefe und Telegramme, teilweise auch ganze Manuskripte, die hin- und hergeschickt wurden, spannte sich mit der Zeit ein weltweites Netz. Dieses Netz sollte nun nachgezeichnet werden, indem die erhaltenen Korrespondenzen durchgesehen wurden. Wer schrieb an wen? Wer erhielt ein Stipendium und mit welcher Begründung? Wo hielten sich die Schreibenden auf?
Die Suche nach Antworten war langwierig, weil die Akten immer wieder nach neuen Informationen durchsucht werden mussten, die vorher noch nicht relevant schienen, und allein die schiere Menge an Dokumenten der American Guild, die im DEA archiviert sind, ist beeindruckend. Aber es war auch sehr interessant, die Briefwechsel zu verfolgen und die einzelnen Personen auf diese Weise ein wenig kennenzulernen. Und der Gedanke, dass der Brief, den man da gerade vorsichtig aus der Mappe nimmt, von Thomas Mann oder Anna Seghers geschrieben wurde, hat ja durchaus auch etwas für sich. Dr. Marc Wurich, mein Ansprechpartner während des Praktikums, visualisierte schließlich die gesammelten Informationen in Grafiken, die die vielfältigen Verbindungen der Menschen untereinander über diverse Kontinente hinweg veranschaulichten.
Im Laufe meines Praktikums übernahm ich verschiedene Aufgaben unterschiedlichen Umfangs, zum Beispiel das ‚Training‘ des interaktiven Zeitzeugnisses. Dieses Projekt, das in Zusammenarbeit mit der USC Shoah Foundation entstand, bietet die wichtige Möglichkeit, Überlebende der Shoah auch noch in vielen Jahren befragen zu können, wenn das persönlich nicht mehr möglich ist. Die betreffende Person wird über mehrere Tage interviewt und gefilmt, die einzelnen Videosequenzen werden verschlagwortet und so können schließlich Nutzer*innen den digitalen Zeitzeug*innen Fragen stellen, auf die dann die jeweils passende Antwortsequenz folgen soll. Das Zeitzeugnis, mit dem ich mich beschäftigen durfte, ist das von Kurt Salomon Maier. Er und seine Familie wurden 1940 aus ihrem Heimatdorf Kippenheim in das Internierungslager Gurs in Frankreich deportiert. Von dort gelang ihnen schließlich die Auswanderung in die USA, wo Kurt Maier bis heute lebt. Da sich das Projekt noch in der Testphase befand, sollte das Zeitzeugnis so oft wie möglich befragt werden, um die Verknüpfung von Fragen und Antworten zu optimieren. So verbrachten meine Mitpraktikantin Josephine Ellermeyer und ich immer wieder Zeit damit, Kurt Maier zu seiner Exilerfahrung und seinem Leben in den USA zu befragen.
Einen Großteil meiner Praktikumszeit verbrachte ich mit der Erarbeitung von Spurensuchen zu verschiedenen Themen. Dieses Format richtet sich vor allem an Schulklassen, die die Ausstellungen besuchen: Ausgewählte Exponate werden in Arbeitsmappen kontextualisiert und die Schüler*innen bearbeiten Fragen zu diesen Stücken, wodurch sie mehr zu einem bestimmten Schwerpunkt der Ausstellung oder einer einzelnen Person lernen. Auch hier begegnete mir Kurt Maier, da ich dabei half, eine digitale Spurensuche für die Bildungsinitiative Digitale Drehtür zu gestalten. Die Exponate waren bereits ausgewählt, nun sollte ich kurze Texte schreiben, die Kontext und Basis für Fragen lieferten, die von den Nutzer*innen interaktiv beantwortet werden können.
Das Format „Geschichte(n) am Mittag“ dient dazu, Besucher*innen auf die Ausstellungen des Exilarchivs aufmerksam zu machen. Die fünfzehnminütigen Führungen, die jedes Mal einen anderen thematischen Schwerpunkt setzen, richten sich vor allem an Personen, die entweder in der DNB selbst oder in der Umgebung arbeiten und in ihrer Mittagspause etwas Neues lernen möchten, ohne ihre gesamte Pause in Anspruch zu nehmen. Zwar sind diese Führungen recht kurz, doch auch sie müssen konzipiert werden, wobei die knappe Zeitspanne eine ganz eigene Herausforderung bietet, da die Besucher*innen nicht überfordert werden sollen, aber dennoch ein Informationsgewinn stattfinden soll. Während meiner Praktikumszeit erarbeitete ich zwei solcher Skripte zu vorgegebenen Themen, indem ich in der Dauerausstellung passende Exponate aussuchte, zu denen ich recherchierte und einen Text entwarf, der bei der Führung vorgetragen werden kann.
Eine andere Seite des Exilarchivs lernte ich während der Tage des Exils kennen. Diese Veranstaltungsreihe fand 2022 zum ersten Mal in Frankfurt statt, wobei das DEA als Veranstaltungsort diverser Events fungierte. Einige der Programmpunkte, bei denen ich nicht selbst dabei war, erlebte ich sozusagen aus zweiter Hand, da ich die Untertitelung der Videoaufnahmen überprüfte, bevor diese veröffentlicht wurden. Wer möchte, kann sich also zum Beispiel die Verleihung des OVID-Preises an die Schriftstellerin Ruth Weiss und die Abschlussveranstaltung mit dem Journalisten Can Dündar online anschauen.
Apropos Veröffentlichung: Aus unseren Hausarbeiten kennen wir das Problem, alle Quellen überprüfen und nachweisen zu müssen. Das ist im Exilarchiv ähnlich, allerdings noch etwas aufwändiger. Beispielsweise sollte in einem Blogbeitrag[HH1] über den Nachlass von Felix Meyer, einem jüdischen Unternehmer und Erfinder, der ab 1939 in Belgien im Exil lebte, ein Foto von ihm und Zitate aus seinen Briefen veröffentlicht werden. Da Felix Meyer selbst nicht mehr lebt, mussten also Angehörige ausfindig gemacht und um ihr Einverständnis gebeten werden. Dazu klickte ich mich durch diverse Stammbaumportale und fand schließlich die Kontaktdaten seiner Enkelin, die der Veröffentlichung glücklicherweise zustimmte. Solche Rechteklärungen können zwar viel Zeit in Anspruch nehmen, sind aber ausgesprochen wichtig, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Denn, das musste ich mir auch selbst immer wieder klar machen: Es handelt sich um die Unterlagen echter Menschen, die Aufschluss über ihr Leben und ihre Person geben und dementsprechend nicht leichtfertig veröffentlicht werden dürfen.
Felix Meyer hinterließ dem Exilarchiv seinen Nachlass, doch einige Menschen übergeben auch schon zu Lebzeiten Dokumente und andere Objekte, einen sogenannten Vorlass. Auch Lili Cassel-Wronker, die nach den Novemberpogromen von ihren Eltern auf eine Schule in England geschickt wurde und später mit ihnen in die USA emigrierte, stiftete dem DEA einige Briefe aus dieser Zeit und ihr wunderschön illustriertes „London Diary“, in dem sie einen Besuch in der Hauptstadt festhielt. Zu ihrem Vorlass beziehungsweise zu ihr selbst erarbeitete ich ebenfalls eine Spurensuche, was mein absolutes Lieblingsprojekt war. Es gab hier noch keinerlei Konzeption oder Vorauswahl, ich sah also den gesamten Vorlass durch und überlegte, welche Objekte gut geeignet sein könnten, um ihre Lebensgeschichte und ihre Exilerfahrung zu erzählen.
In ihrem Londoner Tagebuch zeichnet sie die Sperrballons, die den Luftraum über London gegen Bomberangriffe schützen sollten, der Krieg macht sich immer wieder indirekt in ihren Briefen und Zeichnungen bemerkbar. In ihren Briefen berichtet sie der Mutter, die zu Anfang noch in Deutschland lebte, vom Schulalltag, beschwert sich über Mitschüler*innen und Lehrkräfte und erzählt von Büchern, die sie liest, alles illustriert mit kleinen Skizzen. Auch ihre spätere Arbeit als Illustratorin in den USA floss in die Spurensuche mit ein, da sie ihr ganzes restliches Leben dort verbrachte und nur besuchsweise nach Deutschland zurückkehrte. Das Gestalten der Spurensuche erforderte viel Zeit und Sorgfalt, da Fakten überprüft und Hintergrundinformationen recherchiert werden mussten. Beispielsweise zeichnet Lili in ihrem Tagebuch leuchtende Blumen, die irgendwie mit den Verdunkelungsvorschriften in London zu tun hatten. Dass in der Kriegszeit tatsächlich viele Londoner*innen solche leuchtenden Ansteckblumen trugen, um im Dunkeln Zusammenstöße zu vermeiden, fand ich erst nach einigem Suchen heraus. Trotz aller Mühen machte die Konzeption viel Spaß, allein schon, weil mir Lilis Zeichnungen so gut gefielen, aber auch, weil sie mir in ihren Briefen sympathisch und ihre Lebensgeschichte so interessant war. Neben der wissenschaftlichen Arbeit ist bei der Erstellung von Spurensuchen auch Kreativität gefragt, es ist also eine abwechslungsreiche Aufgabe, was mir gut gefiel.
Auch wenn ich hauptsächlich in der Kulturvermittlung arbeitete, bekam ich Einblicke in alle Bereiche und hätte meinen Schwerpunkt auch jederzeit verschieben können. Etwa zur ‚Halbzeit‘ meines Praktikums hatte ich ein erstes Feedbackgespräch mit Herrn Hasenclever, in dem wir meine bisherigen Aufgaben und Eindrücke besprachen. Auch zu den einzelnen Aufgaben gab es jeweils Rückmeldungen der jeweiligen Mitarbeitenden, was ich sehr schätze, da es mir half, ein Gefühl für die Arbeit im Exilarchiv zu bekommen, die ja doch sehr anders ist als das Schreiben von Hausarbeiten.
Fazit
Ein Praktikum im Exilarchiv kann ich allen ans Herz legen, die sich für Geschichte, Kulturvermittlung und/oder Archivarbeit interessieren. Aber auch Studis, die noch nicht ganz sicher sind, in welchen Arbeitsbereich sie gerne hineinschnuppern möchten, werden auf ihre Kosten kommen, da sichergestellt wird, dass Praktikant*innen alles einmal kennenlernen. Dadurch habt ihr die Möglichkeit, vielfältige Eindrücke zu sammeln und euch einen Überblick über die Arbeit dieser Institution zu verschaffen. Im Team des DEA habe ich mich sehr wohl gefühlt, da alle Mitarbeitenden sehr freundlich waren und sich stets Zeit für Erklärungen nahmen. Auch beim selbstständigen Arbeiten hatte ich jederzeit Ansprechpersonen, bei denen ich in Zweifelsfällen nachfragen konnte. Mir persönlich hat das Praktikum im DEA auch eine berufliche Perspektive aufgezeigt, die ich bis dahin gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
Und unabhängig von Praktika bietet das DEA äußerst wertvolle Recherchemöglichkeiten, die ihr für eure Hausarbeit, Thesis oder Dissertation, aber auch aus privatem Interesse nutzen könnt – also, auf nach Frankfurt!