Nur mit Samthandschuhen anfassen: Die wertvollen Handschriften der Universitäts Bibliothek werden begutachtet. Zu sehen sind: Kathrin Wächter (links), Karina Fischer (rechts), hinten: Anna-Lena Strinweiß. Foto: Prof. Dr. Cora Dietl

Von Prof. Dr. Cora Dietl

Nicht nur eine echte Handschrift, sondern einen „echten Handschriftenkurator“ (und dazu einen höchst sympathischen) haben die Studierenden in Cora Dietls Seminar zur Handschriftenüberlieferung des spätmittelalterlichen Romans Wilhelm von Österreich am 28.06.2022 sehen dürfen. Dr. Olaf Schneider empfing die kleine Gruppe im Sonderlesesaal der Gießener Universitätsbibliothek und brachte sie alsbald zum Staunen. So berichtete er von einem aktuellen Projekt der Entsäuerung von Tageszeitungen – gar nicht mittelalterlich, aber ebenso selten: Die UB Gießen besitzt die einzige vollständige Sammlung der Alsfelder Allgemeinen. Ein Raunen ging auch durch den Raum, als er von Papierfischchen sprach, die erst jüngst in der UB erlegt worden sind. Der Benutzer, das Licht und die Temperaturschwankungen sind also auch heute noch keineswegs die einzigen Gefährdungen für wertvolle Bücher und Dokumente. Dass auch eine Restaurierung schaden kann, zeigte er eindrücklich am Gießener Wilhelm von Österreich, einer stark beschädigten Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert. Sie ist im 19. Jahrhundert neu gebunden und nach den damaligen Methoden restauriert worden – rigoros, wie man heute sagen möchte, und keineswegs mit säurefreiem Papier.

Nach der spannenden Einführung in die Geschichte der Restaurierungsmethoden warfen die Studierenden einen Blick in die Handschrift. Zu entdecken gab es Zwischenüberschriften, die in der Textedition nicht erwähnt sind. Für einige wurden beim Schreiben der Handschrift Lücken gelassen und der Rubrikator (er heißt so, weil er die Handschrift mit roter Tinte nachbearbeitete) hat sie nachgetragen. Andere, ausführlichere, sind von späterer Hand in brauner Tinte am unteren Seitenrand nachgetragen. Die Überschriften zeigen ein deutliches Interesse an politischen Aspekten der Romanhandlung. Zu entdecken gab es auch deutlich spätere Unterstreichungen und Korrekturen im Text (in schwarzer Tinte) – genau dort, wo es um hessische Adelige (Fürsten oder doch nur Grafen?) und Ortschaften geht (deren Namen sich im Laufe der Zeit verändert hatten und dem Leser offensichtlich veraltet oder falsch erschienen). Der Benutzer kannte sich offensichtlich in der Region aus. Schließlich stammt die Handschrift auch aus der Bibliothek der Herren von Riedesel.

Zuletzt gab es auch vielerlei Fehler zu entdecken: Fehler des Schreibers, der beim Abschreiben seiner Vorlage an manchen Stellen wohl geschlafen hatte, Fehler des Editors, der die Lesarten und Lücken der Handschrift in Vorwort und Apparat nicht immer korrekt beschreibt, Fehler in der älteren Handschriftenbeschreibung von Cora Dietl – und Fehler im aktuellen Handschriftenkatalog von Ulrich Seelbach. Selbstkritisch gab auch Olaf Schneider zu, dass auch er beim Beschreiben von Handschriften immer wieder Fehler macht, weil es eine Arbeit ist, bei der man ständig konzentriert sein muss und schnell ermüdet. Fehler aber, so resümierten Schneider und Dietl mit einem Augenzwinkern in Richtung der Studierenden, bieten nachfolgenden Generationen die Gelegenheit, alles noch einmal besser zu machen.