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Von Julia Blaser

Literatur und Psychoanalyse handeln vom selben Thema – von der seelischen Verfassung der Menschen. Das lässt sich zumindest für die Moderne beobachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts existiert eine enge Wechselwirkung und gegenseitige Beeinflussung künstlerischer Produktion und seelischer Erkundung. „Sowohl Schriftsteller als auch Psychoanalytiker denken vom menschlichen Subjekt ausgehend. Die Psychoanalyse versucht, vom Einzelfall auf das theoretische Ganze zu schließen, die Literatur beleuchtet den Einzelfall“, sagt Dr. Markus Reitzenstein, Privatdozent für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er nutzt in seiner Forschung den Blick auf diese beiden Fachgebiete, um Texte und deren Autoren zu interpretieren und zu verstehen. 

So gibt es bestimmte Krankheitssymptome, die auch das literarische Schreiben intensiv beeinflussen können. „Vor allem die Depression nimmt in der Literatur der Moderne und der Gegenwart eine Schlüsselrolle ein.“ Daher lohnt es sich, theoretische Konzepte wie die Sigmund Freuds und auch die der bulgarisch-französischen Literaturtheoretikerin, Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva für die Deutung von Literatur heranzuziehen. „Freud hat Pionierarbeit geleistet, die in einigen Teilen heute noch gültig ist, in anderen historisch gelesen werden muss.“ So sind beispielsweise seine Überlegungen zum Ödipuskomplex – bezüglich der Gefühle eines Kindes zu den Eltern und der sich hier potenziell entwickelnden Konflikte in Rollenverteilung und Identitätsfindung – vom Geschlechterverhältnis der Jahrhundertwende geprägt, können jedoch auch kreativ revidiert und aktualisiert werden. Das mache die Freud-Lektüre gerade in der Postmoderne so spannend. 

Depression biete schon seit der Antike Anlass zur Kreativität, wie beispielsweise in Senecas „Von der Seelenruhe“, auch wenn es den Begriff damals so noch nicht gab. Die Literatur ist für Reitzenstein das Medium Nummer eins, um Empfindungen zu beschreiben und zu vermitteln. „Ob zwei Menschen unter dem Gefühl ‚Liebe‘ wirklich dasselbe verstehen, lässt sich schwer objektivieren. Metaphern sind aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit scheinbar besonders geeignet, Gefühle auszudrücken, für die – wie bei Depression – den Betroffenen die Alltagssprache als ‚zu wenig‘ erscheint. Die metaphorische Sprache dieser Erkrankung ist als solche eine quasi-literarische.“ Demnach scheint gerade die besondere Form dieses Bewusstseinszustands eine Hervorbringung sprachlicher Bilder zu bewirken – zumindest im Bereich künstlerisch-sprachlicher Äußerungen. Die Verbindung von Sprache, Literatur und Depression liege auf der Ebene der metaphorischen Beschreibungen. „Schwarze Sonne“ lautet auch der Titel einer Veröffentlichung Kristevas. Laut dieser hat Depression nicht nur eine hemmende, sondern auch eine produktive Seite im Sinne einer Erkenntnisfunktion. Durch poetische Mittel wird versucht, das Gefühl des Mangels zu bewältigen. Das Fehlende kann temporär über den Weg des Schreibens wieder hergestellt werden. Die poetische Sprache entsteht, da der Schmerz durch sie beschrieben werden kann. Alltagssprache allein vermag das nicht.

Was jedoch ist die Besonderheit dieser Romane? „Sie handeln, sozusagen, oft von ihrem eigenen außerliterarischen Entstehungsanlass, den sie in der Fiktion reflektieren“, sagt Reitzenstein. Sie beobachten sich selbst in ihren Krisen und halten die Empfindungen oder das Fehlen von Gefühlen schriftlich fest. Sylvia Plath schrieb ihren Roman „Die Glasglocke“ auf Grundlage ihrer eigenen Erlebnisse. Als Titel wählte sie eine Metapher, die ihren Zustand am besten beschrieb. Auch der Roman „Prozac Nation“ von Elizabeth Wurtzel, die im Januar 2020 verstarb, ist autobiografisch und von der Erkrankung der Autorin geprägt. Sie spielt auf den gehäuften Gebrauch des Antidepressivums Prozac an. Dieses Medikament erfuhr in den 1990er-Jahren trotz kontroverser Beobachtungen in Studien zum Wirkstoff Fluoxetin eine hohe Frequenz an Verschreibungen und war lange Zeit das meistverkaufte Antidepressivum weltweit. Auch die Werke von David Foster Wallace zeugen von extremer Krisenerfahrung, so vermitteln die Protagonisten häufig Wallaces eigene Erlebnisse mit Depression. Der Roman „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ ist von Hoffnungslosigkeit geprägt, verdeutlicht aber auch die Unmöglichkeit, den eigenen Gedanken zu entrinnen.

Doch auch wenn es ein Wechselverhältnis zwischen literarischer Kreativität und depressiver Disposition gibt, besteht für Reitzenstein kein einfaches Muster aus Ursache und Wirkung. Es könne also nicht davon ausgegangen werden, dass depressiv erkrankte Menschen generell eine größere kreative Veranlagung haben. Bei der Textinterpretation lohnt es sich jedoch nach der „inneren“ Konstruktion der Protagonisten zu fragen: „Ich gehe davon aus, dass ein Roman auf Figuren zurückgreift, die psychologisch angelegt sind“, so Reitzenstein. Daher sind die Verbindung und der Vergleich von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse erkenntnisbringend für die Untersuchung literarischer Texte.