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Von Noah Steffes

Auch in der Germanistik kann es sinnvoll sein, einen Blick über den Atlantik zu wagen. Die Schlagzeilen der US-amerikanischen Medien sind geprägt von Begriffen wie Fakenews, Conspiracy Theory, Censorship. Der Diskurs scheint entlang einer Positionslinie geführt zu werden, die nur noch ihre Extreme kennt. So etwa streitet Donald Trump den Klimawandel vehement ab, seine Gegner sehen diesen als unumstößliche Wahrheit an. Die eigenen politischen Ideologien beiseitezusetzen, um sich in eine offene, rationale Diskussion zu begeben? Kaum denkbar.

Mit dem Ursprung solcher Probleme befassten sich Studierende am Institut für Germanistik im Sommersemester 2023. Unter der Leitung von Dr. Dennis Kaltwasser, wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Forschungsschwerpunkt Sprachverwendung, wurden die Grundlagen öffentlicher Kommunikation erarbeitet. Ausgangspunkt waren zwar theoretische Überlegungen, besonders wichtig war für den Dozenten jedoch die Untersuchung aktueller Öffentlichkeitskommunikation. „Wir befinden uns in einer Krise der öffentlichen Kommunikation“, fasst Kaltwasser zusammen. Zum Wesen einer Demokratie gehöre es, zu streiten. Auf diesen Umstand aufmerksam zu machen und die kommunikativen Grundlagen offenzulegen, das sei Ziel des Seminars.

Platon oder Perikles?

Arbeitsgrundlage waren zwei philosophische Entwürfe, die gleich zu Beginn des Semesters eingeführt wurden: Perikles und Platon. Die Schwerpunkte der einzelnen Sitzungen ließen sich jeweils aus diesen gegensätzlichen Positionen betrachten. Laut dem Dozenten entwickelte sich die Gestaltung des öffentlichen Dialoges entlang ideengeschichtlicher Strömungen des antiken Griechenlands. Als attischer Staatsmann vertrat Perikles den Liberalismus. Ihm zugrunde liegt die unanfechtbare Gleichheit der attischen Bürger. Die Volksversammlung verbat es, Redebeiträge auszugrenzen. Freie Kommunikation war demnach die Grundlage der Volksherrschaft. Für Platon hingegen war die Kommunikation ein Mittel zum Zweck. Er begründete ein System, in dem die Ideen erleuchteter Philosophen die Gesellschaft leiten und durch die Wächter (das Militär) vollstreckt werden. Die Bürger wurden untergeordnet. Freiheit und Kontrolle stehen sich folglich in beiden Denkansätzen gegenüber. „Diese Unterscheidung hat kommunikationsethische Konsequenzen“, erläutert Kaltwasser. Und ihre Relevanz reiche bis in die Gegenwart.

Die Arbeit im Seminar

„Die Inhalte des Seminars können an manchen Stellen im Konflikt mit eigenen Überzeugungen und politischen Anschauungen liegen“, erklärt Kaltwasser in der Eröffnungssitzung. Gewiss ist es offensichtlich, dass das Thema Potenzial zur Polarisierung von Meinungen habe. Deshalb brauche es klare „Spielregeln“. Essenziell sei die Einnahme einer deskriptiven Perspektive. Die politischen Positionen der Seminarteilnehmenden müssen klar von den anstehenden diskurstheoretischen Untersuchungen getrennt werden. Ziel sei die Objektivität. Und zu ihr gelange man, so Kaltwasser, „durch die Betrachtung vieler subjektiver Sichtweisen“. Bereits mit einer Kaffeetasse lässt sich das einfach darstellen. Betrachte ich die Tasse nur von vorne, sehe ich womöglich ein aufgedrucktes Logo. Der Spruch auf der Rückseite des Gefäßes wird aber erst aus einem anderen Betrachtungswinkel sichtbar. Nur, wenn ein Sachverhalt aus allen Perspektiven betrachtet wurde, ist er gänzlich erschlossen.

Das hat Konsequenzen für den praktischen Ablauf der Seminarsitzungen: Alle Perspektiven sind legitim, sachlich-konstruktive Diskussionen ausdrücklich erwünscht. Zwar gleichen diese Regeln denen anderer Seminare. Diese Veranstaltung beschäftigt sich jedoch genau mit der Gefahr, dass womöglich eben nicht immer alle Perspektiven als legitim angesehen werden. Und daher sollten die Prinzipien freier Kommunikation besonders hervorgehoben werden. Und wie gehen die Studierenden mit dieser Arbeitsweise um? „Ich finde es spannend, sich offen über diese Grundfragen Gedanken zu machen“, berichtet eine Studentin. Die offenen Gruppenarbeiten leiten dazu an, einzelnen Aspekten inquisitiv, forschend fragend, nachzugehen. So etwa wurde eine Arbeitsphase dazu verwendet, den zuvor theoretisch eingeführten Aspekt der Kampfbegriffe in der Praxis zu untersuchen. Die Studierenden setzen sich dabei mit den Funktionen und Konsequenzen dieses sprachlichen Werkzeuges im politischen Kampf auseinander.

Immer wieder reichen die Themen des Seminars in Teilbereiche der Philosophie hinein. So standen zentrale Begriffe der Wissenskonstruktion im Mittelpunkt einer Sitzung. Was sind Wahrheit und Wirklichkeit? Kann etwas überhaupt endgültig wahr sein? Studierende und Dozent sind sich einig: Es gibt keine unumstößlichen Wahrheiten. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt aus Kategorien, die der subjektiven Wahrnehmungsbeschreibung dienen. In der Sitzung wurde ebenfalls der praktische Umgang mit Wahrheiten untersucht, mit ernüchterndem Ergebnis. Im Juni 2020 veröffentlichte die SPD einen eigenen Faktencheck zur Impfpflicht, in dem es klar hieß: „Es kann und es wird keine Impfpflicht geben.“ Als die Entscheidung der Impfflicht im März 2022 im Bundestag debatiert wird, ist schon länger klar, dass die SPD diese zu unterstützen sucht. Der ursprüngliche Faktencheck ist ab dem gleichen Monat nicht länger aufzufinden. Der Eintrag auf der Internetseite der Partei wurde schlicht entfernt. Nun ist es niemandem verboten, die eigenen Ansichten zu ändern, eine Situation anders einzuschätzen. „Doch hier geht es um Wahrheit“, meint Kaltwasser. Stellt sich der eigene Faktencheck jedoch als falsch heraus, dürfe dieser nicht kommentarlos aus dem Wahrheitskonsens entfernt werden; „das ist kein sinnvoller Umgang mit Wahrheit“.

Und jetzt?

Kaltwasser bezeichnet seine Veranstaltung selbst als ein Grundlagenseminar. Unmöglich könne das Thema vollständig in nur vierzehn Wochen behandelt werden. Die Themen der einzelnen Sitzungen böten ausreichende theoretische Grundlagen und genügend Diskussionsbedarf, um weitere Semester zu füllen. Stattdessen soll aus dem Skizzieren relevanter Themen ein Gesamtbild entstehen, das Aufschluss über die kommunikativen Grundlagen politischen Sprachgebrauchs gibt. Ein internationaler Blick unterstreiche die Bedeutsamkeit dieses Wissens: „Zu einer Demokratie passt fast nichts, was in der Welt kommunikativ passiert“; so fasst Kaltwasser seine Motivation für das Seminar zusammen. Die Freiheit der Sprache sichere die Demokratie; und das sei eine der Herausforderungen unserer Zeit.