Von Dana Lissmann

„Wir schreiben jetzt ein Rinke-Stück“, verkündet Axel Brüggemann in der Talkshow Weser-Strand und setzt sich mit Romanautor und Dramatiker Moritz Rinke vor einen Laptop. Ein weißes Dokument strahlt ihnen entgegen, die Zeilen beginnen abwechselnd mit Person 1 und Person 2. Gespannt warten die Zuschauer darauf, den Autor live schreiben zu sehen. Verständlich, denn wer hat sich noch nicht gefragt, wie Bestsellerautoren arbeiten. Doch was genau versteht man unter einem Rinke-Stück? Rinke, der bis 1994 in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studierte, gilt als einer der großen Schriftsteller der Gegenwart. Seine tragikomisch anmutenden Theaterstücke bringen nicht nur frischen poetologischen Wind in die Theatersäle, sondern auch das Publikum zum Lachen. Seine erste Romanveröffentlichung mit Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel entpuppte sich als Bestseller. Wie schreibt man also so ein typisches Rinke-Stück? Oder gar einen Besteller? Genauer: Wie schreibt Moritz Rinke? Diverse Interviews mit dem Autor sowie sein Vorlass in Gießen gewähren einen Einblick in seine Arbeit.

Figuren überraschen den Autor – Rinke zur Planung seiner Werke

„Ich habe eher Bilder im Kopf, Sätze, Ausbrüche. Und dann versammle ich die Figuren allmählich und schaue, was passiert“, erklärt Rinke in einem Werkstattgespräch mit seiner Lektorin Sandra Heinrici. Er sei kein Brecht oder Frisch, kein Autor also, der seine Erzählung durchplant, bevor er sie niederschreibt. Und so finden sich auch in seinem Vorlass, also unter archivierten Dokumenten seines Schreibens, spontan als Schmierzettel benutzte und zerknitterte Kassenbons von Cafés, die Datum und Gedankengang des Autors verraten. „Ich möchte mich auch selbst überraschen bzw. mich von den Figuren überraschen lassen können. Wenn ich ihnen aber schon in den Plänen ein Ende gegeben hätte, dann könnten sie ja gar nicht mehr eigene Wege gehen“, so Rinke zu Heinrici.

Zwischen Geschichte und Roman – Zeitstrahl in Rinkes Notizbuch,  angelehnt an seinen Heimatort Worpswede. Entstanden während der Arbeit  an „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. © Bildarchiv von Universitätsbibliothek und Universitätsarchiv Gießen

Allerdings verrät ein Zeitstrahl über die Worpsweder Geschichte, niedergeschrieben in einem vergilbten Notizbuch, erste strategische Überlegungen. Zwischen ihm und einer ausgedruckten Word-Tabelle, die Schritt für Schritt Wege auflistet, wie der Protagonist ein Geheimnis in seiner Vergangenheit lüftet, offenbaren Rinkes Arbeitsnotizen, dass selbst Autoren, die ihren Figuren freien Lauf lassen, ab einem gewissen Punkt um die Planung nicht herumkommen. Sogar ältere Versionen seines Bestellers Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel lassen sich im Gießener Vorlass einsehen, ausgedruckte alte Fassungen, die Rinke handschriftlich korrigiert hat „Ich drucke das Skript aus und schreibe hinein“, so beschreibt der Autor gegenüber Brüggemann seinen Schreib- und Korrekturvorgang. „Ich liebe das, nicht vorm Computer zu sitzen, sondern vor dem ausgedruckten Skript und da meine Korrekturen reinzumachen.“ Eine Liebe, die dazu führte, dass sein Vorlass nach Gießen kam. Denn Rinke hinterlässt auf diese Weise Spuren, die es Germanisten möglich machen, das Entstehen seiner Werke nachzuvollziehen. So zeigt ein Vergleich der unveröffentlichten Versionen und des gedruckten Romans, dass Rinke auf den letzten Metern zur Veröffentlichung strukturierter und komprimierter, ja sogar abstrakter schreibt. Er entwickelt eine Komplexität, die den Leser fasziniert und rätseln lässt. 

Arbeitslosigkeit, der Künstlerbetrieb, eine Auseinandersetzung mit der 68er-Generation (seiner Elterngeneration), Liebe, Selbstachtung und Menschenwürde thematisiert Rinke zentral in seinen Werken. Mit von der Partie sind Figuren mit utopischen Visionen, schrägen Persönlichkeiten oder Bezügen zu seiner Heimat Worpswede.

Kein Fan vom gegenwärtigen Theater – Rinke als Dramatiker

Als Dramatiker wendet Rinke sich bewusst von der gegenwärtigen Form des postdramatisch inspirierten Theaters ab. Er kritisiert Regisseure, die zu stark eingreifen und betitelt sie, Theaterwissenschaftlerin Petra Bolte-Picker gegenüber, als „Dramaseure“, also als Regisseure, die sich anmaßen Dramatiker zu sein. Diese würden sich für Aufmerksamkeit zu weit vom Text fortbewegen. Einen roten Faden durch Rinkes Schreiben stellen nach wie vor die Figuren dar, denn für den Dramatiker steht fest, dass das Publikum Charaktere auf der Bühne und eine Geschichte sehen will, so Rinke im Weser-Strand-Interview. Für die Figuren selbst, vertraut Rinke Brüggemann an, hat er oft bereits Schauspieler im Kopf. Klassisch für seine Theaterstücke ist „der Rinke-Dialog“ mit „typischen Rinkecharakteren“, deren rätselhafte Aussagen Spannung erzeugen. „Ich habe noch eine Sensation mitgebracht“, tippt Rinke in das leere Dokument im Weser-Strand-Interview und sein Gegenüber überlegt: „Was würde so ein Rinkecharakter sagen? Vielleicht-“, und Brüggemann schreibt: „Interessiert mich eigentlich nicht“. Rinke kontert sofort: „Du wirst erröten, wenn du es siehst. Ich liebe einen Gegenstand“ und hat augenblicklich die Aufmerksamkeit des Publikums. Das also ist der berühmte Rinke-Dialog, unvorhersehbar, spannend, provokant, manchmal auch lustig – gesprochen von seinen unverwechselbaren Figuren.   

Die neue Form begeistert – Rinke als Romanautor

Mitten im Korrekturvorgang – alte Fassung von Rinkes Werk „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“. Rinke korrigiert bevorzugt die Printversionen mit der Hand. © Bildarchiv von Universitätsbibliothek und Universitätsarchiv Gießen

Diese Figuren gestalten auch sein Werk Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel, erklärt Rinke seiner Lektorin Heinrici: „Es ist ein Roman, in dem die Figuren leben.“ Herausfordernd war für ihn beim Gattungswechsel allerdings die Prosaform – und allen voran die Vorvergangenheit – mit der er seine Erzählungen gestaltet. Plötzlich schrieb er nicht mehr Dialoge von Person 1 und Person 2, sondern kämpfte mit der Satzstruktur. „Und da hast du plötzlich Satzkonstruktionen, die du als Dramatiker gar nicht kennst. Vorvergangenheit! Die Vorvergangenheit kann einen wahnsinnig machen.“ Inzwischen, vertraut Rinke Heinrici an, sei der Roman allerdings zu seiner Lieblingsform herangewachsen: „Das Hinübergleiten aus der Erzählung in den Dialog und zurück – es gibt nichts Schöneres!“ Besonderen Wert legt er dabei auf die Mischung aus Ernstem und Amüsanten, für ihn liegt darin etwas Lebensechtes, denn „wir sind doch alle irgendwie tragikomisch“.

Einige Dinge, wie das Tragikomische, behält der Autor beim Wechsel vom Dramaschreiben zum Romanschreiben allerdings bei. So ist ein offenes Ende, über das auch der Roman verfügt, charakteristisch für Rinkes Werke und liegt ihm sehr am Herzen, da „dadurch die Figuren weiterleben“. Solche offenen Enden regen die Leser dazu an, die Erzählung weiterzuspinnen und so die Figuren am Leben zu erhalten. Zudem orientiert sich Rinke in seinem Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel vage an wahren Begebenheiten und Personen und vermischt sie mit Imaginiertem, um seine nicht-echten, aber lebhaften und lebensnahen Figuren zu schaffen. Und so verhalte es sich auch generell mit seinen Werken – ein Schuss Realität und viel Erfundenes: „Meine Geschichten kommen ja aus dem Leben. Ich bin ein Geschichtenerzähler.“ Eine von ihnen findet er auch sehr passend, um über sein Schreiben zu reden. Rinke habe nämlich mit Freunden in Kindertagen gerne ab und zu einen Fußball ins Bordell geschossen, um einen kleinen Einblick in die verbotene Welt zu erhaschen. „So ist es auch ein bisschen mit dem Schreiben“, sinniert Rinke Heinrici gegenüber. „Man schießt irgendwo einen Ball hinein, klingelt, bekommt einen winzigen Ausschnitt, der Rest ist Imagination, Roman!“