Von Rinn
Wetzlar. In der kleinen Buchhandlung in Wetzlars Altstadt ist an diesem Abend kein Platz mehr frei. Die Bücherregale reichen bis zur Decke, die Besucher*innen sitzen in einem heimelig beleuchteten Raum. Der Leipziger Autor und Filmemacher Clemens Böckmann stellt hier sein Romandebut Was du kriegen kannst vor. Die darin erzählte Geschichte der Protagonistin Uta, die 40 Jahre lang als Sexarbeiterin in der DDR tätig war, beginnt ebenfalls in Leipzig. Ab 1971 arbeitete sie für die Staatssicherheit.
Böckmann hält seinen Roman in einer einzigartigen Mischform: Teile des Textes lesen sich wie Aktenausschnitte, inklusive Tippfehlern und geschwärzter Namen, die der Autor als „Schwarzer Balken“ vorliest. Doch was ist hier Fakt, was Fiktion? Sind dies originale Zitate aus Stasi-Akten oder eine künstlerische Nachempfindung? Schon zu Beginn verwirrt der Roman auf besondere Weise: Die ersten Seiten werden aus der Perspektive einer Uta nahestehenden Person erzählt, ein Treffen in einer Leipziger Bar, anscheinend in der Gegenwart, bildet den Ausgangspunkt der Geschichte und von dort aus wird über Utas Erlebnisse berichtet. Erzählt der Autor hier etwa aus eigenem Erleben? Collagenartig wechseln sich Erzählperspektiven aus der Vergangenheit und Gegenwart ab und erzeugen ein labyrinthisches Leseerlebnis.
Uta führt im Auftrag der Staatssicherheit Treffen mit Männern durch, teils intim, teils rein platonisch. Oft sind ihre Kunden einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Westen, die Leipziger Messe dient als zentraler Knotenpunkt dieser Operationen. Sie nimmt Geschenke an, beantwortet Fragen zum Leben in der DDR und lauscht den Berichten aus dem Westen. Trotz der scheinbaren Unordnung der Handlung bleibt der Stil stringent: Stasi-typische Abkürzungen wie „IVM Anna“ oder „CSSR Prag“ ziehen sich durch den Text. Böckmann schafft es, durch das Spiel mit Schein und Sein und das gezielte Zurückhalten und Verschlüsseln von Informationen, auch auf der Metaebene ein Gefühl für Utas Lebensrealität zu vermitteln. Wer wann tatsächlich was erzählt, wird erst zwischen den Zeilen deutlich: Das Leseerlebnis selbst erzeugt eine Unsicherheit, die metaphorisch für das Lebensgefühl Utas unter der Staatssicherheit steht.
Im Gespräch mit dem Publikum gibt Böckmann Einblicke in seine Recherchen; bereits während seines Studiums befasste er sich mit der deutsch-deutschen Vergangenheit. Uta, so wird schnell klar, ist eine reale Person. Während der zweijährigen Arbeit am Buch traf er sie häufig. „Da hat sich eine Freundschaft entwickelt“, sagt er sogar. Der aktenartige Stil sei eine sehr bewusste Entscheidung gewesen, denn „es ging darum, eine noch größere Distanz [zu den Leser*innen] aufzubauen.“ Während der Recherche bekam Böckmann Einsicht in die Stasi-Akten im Bundesarchiv. Die reale Person Uta hingegen durfte nur Teile der eigenen Akte einsehen, „da sie damit Täterinnen-Wissen auffrischen könnte“, denn „Uta ist sowohl Täterin als auch Opfer.“ Sexarbeit stand in der DDR unter Strafe und fand unter dem Synonym „Geschenke-Sex“ statt. Die Arbeit der Protagonistin würde man heute als Escort-Service bezeichnen, so Böckmann weiter. Ein „Einfallstor für die Staatssicherheit“: In den 70er-Jahren steckte die DDR in der ökonomischen Krise. Das Ansetzen von Frauen auf Männer aus dem nicht-sozialistischen Ausland erhoffte sich die Stasi wertvolle wirtschaftliche Informationen, außerdem die Erpressbarkeit dieser Männer. Dazu kommt die staatliche Kontrolle weiblicher Sexualität, die als destabilisierender Faktor galt und beherrscht werden sollte, erläutert der Autor.
Den distanzierten Erzählstil, die „Abspaltungsmomente“ Utas benennt Böckmann auch als ein Abbild der durchaus traumatischen Zusammenarbeit von Sexarbeiter*innen mit der Stasi. Die Konsequenzen dieser Zeit trügen viele der betroffenen Frauen bis heute mit sich, erzählt er. Einige Frauen hofften, über eine Heirat mit einem ‚Zielobjekt‘ in den Westen zu gelangen. Clemens Böckmann gelingt mit Was du kriegen kannst ein Roman, der dokumentarische Elemente mit literarischer Finesse verwebt. Er erzählt eine faszinierende Geschichte, die zwischen Realität und Fiktion oszilliert. Ein Abend, der nachhallt.