Von Kübra Aksoy
Gießen, 04.07.2023
Was sind die Forschungsschwerpunkte Ihrer Professur? Und woran arbeiten Sie aktuell?
Die Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich dessen, was man „literale Kompetenz“ nennt. „Literal“ bedeutet eigentlich buchstäblich, schriftlich – also alles, was in Hinblick auf Kompetenzen schrift- und schreibbezogen ist. Dieses Thema ist auch sprachtheoretisch sehr interessant, weil sich eben geschriebene und gesprochene Sprache stark unterscheiden. Im Schriftlichen haben wir Texte, im Mündlichen haben wir vielleicht Gespräche oder Äußerungen. Wenn ich etwas zu schreiben habe, benutze ich mein Deutsch anders, als wenn ich spreche. Auch wenn wir uns jetzt zum Beispiel unterhalten, ist es zwar mündlich, aber es wird später verschriftlicht. Entsprechend plane ich bereits, was ich sage. Meine Äußerung ist also „konzeptionell schriftlich“. Dieser ganze Bereich – Wie wird das erworben? Wie entwickelt sich die literale Kompetenz? –, der interessiert mich und dazu forsche ich.
Ich hatte jetzt zum Beispiel im März einen Vortrag beim Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) – das ist die größte Forschungseinrichtung zur deutschen Sprache in Deutschland. Die sagten: Wir haben im März eine Tagung zum Thema „Orthografie in Wissenschaft und Gesellschaft“. Ich wurde gebeten, einen Vortrag zu halten zur Frage, ob die orthografischen Fähigkeiten mit den bildungssprachlichen Fähigkeiten zusammenhängen.
Was ist denn unter „bildungssprachlichen Fähigkeiten“ zu verstehen?
Also Bildungssprache kennen Sie: Sprache, wie sie gebraucht wird in universitären oder in schulischen Lernzusammenhängen. Solche Tätigkeiten wie Gliedern, Zusammenfassen, aber auch kommunikative Tätigkeiten wie Erklären, Argumentieren – die haben schriftlich eine bestimmte Form. Zum Beispiel soll man in Hausarbeiten nicht „ich“ schreiben. Woran liegt das? Warum ist das eigentlich so?
Auch in der Wissenschaft wird natürlich „ich“ gesagt. Wir sind jetzt hier in der Uni und Sie fragen mich und ich antworte. Auch da kommt ein „Ich“ vor. Das heißt, es gibt auch Kontexte, wo wir in der ersten Person miteinander sprechen. Aber auch in schriftlichen Texten, z.B. in der Einleitung oder am Schluss, kann das „Ich“ vorkommen. Warum eigentlich? Das hängt mit der bildungssprachlichen Verwendung zusammen. Dazu habe ich auch sehr viel publiziert und geforscht. Dort auf der Tagung in Mannheim wurde ich dann gefragt, ob die Orthografie mit diesen Fähigkeiten irgendwas zu tun hat. Das ist natürlich eine hochinteressante Frage.
Und? Ist Orthografie noch wichtig?
Gerade heute ist es gar kein Problem mehr, dass man orthografisch einwandfreie Texte diktieren kann, und die erscheinen dann in Schriftform, weil es automatische Korrekturprogramme gibt und Spracherkennungsprogramme. Da könnte man doch jetzt sagen, wir brauchen überhaupt keinen Orthografieunterricht mehr: Wenn man doch einfach in ein Gerät sprechen kann, und dann hat man einen astreinen schriftlichen Text. Wozu dann noch Orthografieunterricht? Mit dieser Frage habe ich mich befasst. Das Ergebnis, das ich auf der Tagung vorgestellt habe und das für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist dann gewesen: Auch wenn wir diktieren und der Text hinterher verschriftlicht wird, haben wir noch lange keinen konzeptionell schriftlichen Text. Die technischen Möglichkeiten ersetzen also keineswegs Orthografie und die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken.
Und wie ist das mit Lesen und Schreiben?
Das ist ein anderes Thema. Wie hängt eigentlich unsere Lesefähigkeit mit unserer Schreibfähigkeit zusammen?
Wenn man eine Person mit schwachen und eine mit starken Schreibfähigkeiten nimmt und legt denen dann Texte zum Lesen vor, dann kommt heraus, dass die Starken schneller und besser lesen können. Das Lesen ist natürlich die Hauptfähigkeit, mit der wir Informationen aufnehmen und verarbeiten. Das denkt man vielleicht nicht, denn quantitativ reden und hören wir das meiste. Lesen ist zehnmal so schnell wie das Hören. Deshalb sind wir alle völlig genervt von Sprachnachrichten, oder die meisten sind davon genervt, weil es immer so viel Zeit kostet, diese abzuhören. Das Lesen ist ungeheuer schnell und deshalb der wichtigste Modus zur schriftlichen Informationsverarbeitung.
Was sind Ihre Aufgaben als Germanistik-Professor?
Formell könnte man einfach sagen: Man hat natürlich die Forschung, dann hat man die Lehre. Das gilt für jeden Professor, für jede Professorin. An der Universität ist das so, dass die Lehre eigentlich immer aus der Forschung erwachsen soll. Das heißt, wir haben natürlich auch Standardthemen in der Lehre. Wenn ich beispielweise eine Einführung in die Linguistik gebe, dann trage ich bestimmtes kanonisches Wissen vor. Aber auch in meinen Einführungsvorlesungen gibt es Abschnitte zur Bildungssprache oder zum Spracherwerb. Das heißt, ich versuche auch dort schon eigene Perspektiven oder Forschungsarbeiten mit einzubeziehen.
„Wissenschaft hat eine Bringschuld“
Ein weiterer wichtiger und zentraler Bereich ist die gesellschaftliche Vermittlung: Wissenschaft hat eine Bringschuld, wie man sagt, gegenüber der Öffentlichkeit. Was heißt das? Wir sind dafür verantwortlich, dass das, was wir forschen und herausfinden, auch in die Öffentlichkeit kommt. Menschen, die erstmal nichts mit der Universität zu tun haben, sollen von diesen Ergebnissen profitieren, und das hat viele Konsequenzen. Ich gebe zum Beispiel zwei Zeitschriften mit heraus: Einmal die Zeitschrift für germanistische Linguistik, das ist die größte Zeitschrift für den Bereich der germanistischen linguistischen Forschung und die zweite Zeitschrift Praxis Deutsch, das ist die größte Zeitschrift für den Deutschunterricht.
Dann gibt es noch den ganzen Bereich der Forschungsdiskussion, das ist ja eigentlich nicht Forschung, sondern auch Bekanntmachung und Diskutieren von Ergebnissen. Ich war zum Beispiel viele Jahre im Fachkollegium der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den Schwerpunkt Linguistik. Da begutachtet man Forschungsanträge, die eben aus ganz Deutschland von den Universitäten und von den Kolleginnen und Kollegen kommen, ob die gefördert werden sollen oder nicht. Oder ich bin im Germanistenverband, ich bin in der deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, bin im wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Deutsche Sprache, das heißt, das ist nicht direkt Forschung, aber das ist Wissenschaftskommunikation und die ist wichtig für das Abdecken dieser öffentlichen Bringschuld.
Was hat Sie damals zum Germanistikstudium gebracht?
Also erstmal hat mich das Fach Deutsch schon in der Schule interessiert wie auch insgesamt die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Meine Mutter wollte immer gerne, dass ich Medizin studiere, dazu hatte ich überhaupt keine Lust. Ich hätte es gekonnt vom Abitur her, aber ich wollte gerne Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften studieren. Das hatte damals nicht unbedingt die Berufsperspektiven. Meine Wahl fiel auf das Lehramtstudium wie bei den meisten, die sich für Geistes- und Sozialwissenschaften entschieden. Es war auch bei mir zunächst einmal Interesse an der Literatur. Dass es die Linguistik gibt, erfuhr ich erst, als ich studiert habe.
Und ich war dann schon sehr früh Hilfskraft in der Linguistik. Zunächst mal war ich lange Tutor für Einführungsseminare. Dann kam ich in so ein Forschungsprojekt, wo es um den Erwerb von Schreibfähigkeiten ging. Das fand ich dann alles hoch spannend. Gleichzeitig habe ich mit großem Interesse Literatur studiert, aber auch Soziologie. Auch dort hatte ich tolle akademische Lehrerinnen und Lehrer. Na ja, und so hat sich das entwickelt. Was jedoch beruflich hinterher daraus werden sollte, das war mir die längste Zeit eigentlich unklar.
Gibt es einen Unterschied zwischen den Studierenden damals und heute?
Heute sind sehr viele der Studierenden so, dass sie sagen: „Ich will auf jeden Fall Lehrerin oder Lehrer werden“. Bei uns war es damals eine Teilgruppe, für die das schon früh feststand. Die meisten studierten zunächst einmal dieses Fach und hatten dann irgendwie Vorstellungen, zu Verlagen zu gehen oder als Journalist*innen zu arbeiten. Bei mir hat sich der wissenschaftliche Weg entwickelt, weil ich recht erfolgreich war im Studium, gute Noten und eine interessante Abschlussarbeit hatte. Ich bekam dann das Angebot für eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle. Zunächst dachte ich: „Das kannst du sowieso nicht!“ Damals war es so, dass man in der Schule überhaupt keine Stelle bekommen hätte. Das war Mitte der 1980er Jahre, da war große Lehrerarbeitslosigkeit, also ganz anders als heute.
Ich hatte mich an verschiedenen Fortbildungseinrichtungen und Evangelischen Akademien beworben, für Praktika und Ähnliches. Das hing noch alles in der Luft, und dann kam dieses Angebot für eine Mitarbeiterstelle. Da dachte ich: „Wenn du dieses Angebot kriegst, dann machst du das. Du kannst es nicht, aber schlimmer, als dass du nach zwei Jahren wieder rausgehst, kann es auch nicht werden.“ Ich habe das dann gemacht und ich bin dabeigeblieben.
Hat sich die Linguistik seitdem sehr verändert?
Ja, sehr. Die Linguistik hatte lange theoretisch mit dem Modell operiert, dass unsere sprachliche Kompetenz eben aus der Kenntnis von Regeln und Wörtern besteht. Und durch die korpuslinguistische Forschung – zum Beispiel am IDS in Mannheim, gibt es die größte Sammlung deutscher Sprache in schriftlicher Form mit, ich glaube, inzwischen 55 Milliarden Wörtern. Das ist also Big Data. Und durch Big Data hat die korpuslinguistische Forschung nicht nur die empirische Basis der Arbeit in der Linguistik verändert, sondern man stellt fest, dass man dafür ganz andere Modelle, ganz andere Theorien zur Sprache braucht. Die Gedanken dazu sind alt. Man findet diese zum Beispiel schon bei Wilhelm von Humboldt. Ich bin ein großer Fan von Wilhelm von Humboldt. Aber heute gibt es eben die empirischen Grundlagen dafür und das wirkt ganz tief in die Linguistik hinein. Deshalb ist die Linguistik heute eben eine Wissenschaft, die diesen gesamten technisierten Sprachgebrauch erforscht, ob das jetzt ChatGPT ist, oder Alexa, oder das Smartphone, das wir in die Hand nehmen, mit fast-spelling-correction. Überall dort steht linguistische Expertise im Hintergrund und das liegt an dieser Veränderung der Gegenstandsauffassung und auch der Methoden und Theorien, die damit einhergehen.
Haben Sie ein Lieblingsseminarthema?
Eigentlich muss ich sagen, dass ich alle Veranstaltungen sehr gerne mache. Im ersten Coronasemester hatte ich nach ganz langer Zeit zum ersten Mal wieder einen Lektürekurs im Programm und wurde dann von Corona überrascht. Ich habe mich gefragt, ob ich eigentlich unter diesen Bedingungen der Distanzlehre einen Lektürekurs machen kann und hatte schon überlegt, ob ich den wieder streiche. Dann habe ich aber gedacht: „Nein, du machst das, aber du musst es ganz anders machen.“ Ich habe dann ein neues Instrument eingeführt für die Seminare, und zwar die Lerntagebücher. Das mache ich inzwischen in allen Kursen, habe es also auch nach Corona beibehalten. So wurde mein Lektüreseminar zu meiner Lieblingsveranstaltung. Das Thema war: „Was ist sprachliche Bildung?“ Wir befassten uns mit Theorietexten von Wilhelm von Humboldt, Noam Chomsky, aber daneben auch mit Sozialkonstruktivismus. Die Lektüre reichte von Jerome Bruner bis eben hin zur aktuellen empirischen sprachdidaktischen Forschung. Ich war ganz begeistert davon, wie hart die Studierenden dort gearbeitet haben und immer ihre Lerntagebucheinträge verfasst haben. Das hat mir großen Spaß gemacht.
Worauf legen Sie bei Ihren Studierenden besonders Wert?
Ich lege großen Wert auf Verbindlichkeit. Ich lege keinen Wert darauf, dass die Studierenden nur körperlich anwesend sind. Wichtig ist, dass sie geistig anwesend sind, dass sie selbst zum Thema arbeiten. Das ist eben etwas, was durch die Lerntagebücher auch sehr stark gefördert wird. Es entsteht ein gesamter thematischer Zusammenhang im Seminar. Seitdem ich mit diesen Lerntagebüchern arbeite, muss ich keine Anwesenheitslisten mehr führen. Das Wichtige dabei ist, dass vorbereitend die Kapitel geschrieben werden, also noch bevor wir das Thema im Seminar besprechen. Das führt dazu, dass die Studierenden ein Interesse an dem Thema haben, da sie selbst was dazu geschrieben haben und sie kommen dann zum allergrößten Teil in die Sitzungen. So herrscht eine hohe Verbindlichkeit, auf dich ich, wie gesagt, großen Wert lege.
Welches Genre lesen Sie privat am meisten?
Privat lese ich natürlich Literatur – also belletristische Literatur. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen: „Dschinns“ von Fatma Aydemir – ein ganz tolles Buch über eine türkische Familie. War im letzten Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 – kann ich nur allen empfehlen. Dann lese ich Annie Ernaux, die letzte Nobelpreisträgerin für Literatur und da lese ich aktuell ihren autobiografischen Roman „Die Jahre“. Eigentlich lese ich immer parallel belletristische Literatur unterschiedlicher Richtungen und Orientierungen
Was fasziniert Sie an Sprache besonders?
Sprache ist deshalb für mich etwas absolut Faszinierendes, weil sie so viele Gegensätze in sich vereint. Die Sprache ist einmal etwas Biologisches – nur die Gattung Mensch beherrscht eine Sprache. Man muss dann natürlich über die Definition von Sprache sprechen. Aber nehmen wir mal so etwas wie ausgebaute Negation, das gibt es nur sprachlich. Es ist nicht bekannt aus dem Tierreich, dass es dort Negation gäbe. Das gilt natürlich für viele logische Relationen, also da ist gattungsmäßig in irgendeiner Weise biologisch etwas präformiert. Auf der anderen Seite ist die Sprache extrem kulturell. Sie ist die Form, in der wir Kultur schaffen und mit der wir Kultur schaffen bis hin zu Literatur und zu literarischen Texten. Und dann ist die Sprache gleichzeitig etwas, das extrem implizit ist, ein unterbewusstes Wissen. Und auf der anderen Seite ist die Sprache das Medium, in dem wir unser Wissen, auch unser sprachliches Wissen, ständig thematisieren können. Das heißt, sie wird zu bewusstem Wissen, zu kontrolliertem Wissen, zu gestaltbarem Wissen. Dann gibt es die zwei Gegensätze Mündlichkeit und Schriftlicheit und so weiter, also diese extreme Spannung in den Erscheinungsweisen der Existenzform der Sprache. Das fasziniert mich sehr.
Warum sollte man Ihrer Meinung nach Germanistik studieren?
Man muss sich für Sprache und Literatur interessieren und nicht nur irgendwie interessieren – sagen wir mal, man muss sie lieben. Man entwickelt natürlich irgendwann ein Selbstbild von sich selbst, aber man sollte Sprache und Literatur nicht nur mit so einer „Um-zu-Perspektive“ studieren, sondern weil man sich wirklich dafür interessiert. Die anderen Optionen, also: Was fange ich damit beruflich an? Wie gehe ich damit um? Was kann ich damit machen? Wie kann das zu meinem Broterwerb beitragen? entwickeln sich, wenn man ein inneres Verhältnis zu Sprache und Literatur aufgebaut hat.
Und ein Studium ist ein absoluter Luxus, den die Gesellschaft den Heranwachsenden freistellt. Sie können sich mit einem bestimmten Gegenstand, der sie interessiert, befassen und dafür auch Unterstützung bekommen, das ist ja ein unglaublicher Luxus. Man sollte auch bedenken, was in einigen Staaten wie jetzt in Afghanistan, geschieht. Erst heute Morgen war zu hören, dass dort alle Friseurläden geschlossen werden. Warum? – Weil es eine der letzten Einkommensquellen für Frauen ist, die damit auch ihre Familien ernähren. Frauen und Mädchen in Afghanistan dürfen nicht mehr zur Schule gehen, geschweige denn Universitäten besuchen.
Also wenn man sich vor diesem Hintergrund vorstellt, was wir hier für einen Luxus haben, bei allen Schwierigkeiten, die es gibt, dann ist das eine ganz besondere Chance für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Und natürlich dafür, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt, denn das ist natürlich auch eine wichtige Aufgabe der Universität.