Von Katharina Wöge
Ein lauer Spätsommerabend, dicht gedrängte Reihen, zusätzliche Stühle und sogar kleine Hocker, um noch mehr Menschen teilhaben zu lassen: Das Interesse an Charlotte Gneuß ist groß, als sie am 2. September im Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen aus ihrem in der ehemaligen DDR spielenden Debütroman „Gittersee“ liest. Dass es sich zugleich um die erste Abendveranstaltung seit der Eröffnung des Erinnerungsortes handelt, verleiht dem Abend besondere Bedeutung. Schon der Gang durch das Gebäude lässt die Vergangenheit dieses Ortes lebendig werden und schafft einen eindrucksvollen Rahmen für die Lesung. Hier, wo für Hunderttausende das „Tor zur Freiheit“ aufgestoßen wurde, wo Geschichten von Flucht, Verfolgung, Ankunft und Integration greifbar werden, trifft an diesem Abend Literatur auf Erinnerungskultur. „Es berührt mich sehr, gerade hier lesen zu dürfen“, sagt die Autorin gleich zu Beginn.
Charlotte Gneuß, 1992 in Ludwigsburg geboren, ist zugleich Sozialarbeiterin und Schriftstellerin. Ihre literarische Arbeit zeichnet sich durch die Bereitschaft aus, gesellschaftliche Tabus anzusprechen. Bereits in dem Sammelband „Glückwunsch“, an dem sie mitgeschrieben hat, zeigt sich diese Haltung. „Abtreibung wird in der Literatur oft als etwas dargestellt, was Frauen bereuen. Abtreibung kann aber auch Erleichterung sein“, betont sie. Diese schonungslose Direktheit durchzieht auch ihr 2023 erschienenes Buch „Gittersee“, das mit dem Aspekte-Literaturpreis und dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Über den plötzlichen Erfolg sagt sie augenzwinkernd: „Ich war auch erstaunt“ – und erntet dafür lautes Lachen aus dem Publikum. Doch der Erfolg war nicht ungeteilt. Das Buch hat „viele geärgert“, wie die Autorin selbst einräumt. Ingo Schulze, ein prominenter Kollege, habe eine Liste mit vermeintlichen Ungenauigkeiten erstellt, etwa der Behauptung, man habe in der DDR nicht in der Elbe gebadet. Gneuß kontert dies mit einem Verweis auf die Erinnerungen ihrer Eltern, die genau solche Szenen zeigen. „Das ist keine Kritik, sondern die Verhinderung eines Romans“, sagt sie entschieden. Denn, so ihr Standpunkt, die Erinnerung an die DDR ist vielschichtig und subjektiv. „Die Menschen haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Schulze durfte studieren, meine Eltern haben die DDR als Diktatur empfunden.“
Der Roman Gittersee erzählt von der 16-jährigen Karin, die 1976 in der sächsischen Industriestadt Gittersee lebt. Als ihr Freund Paul völlig unerwartet in den Westen flieht, bleibt Karin zurück. Sie wird von der Stasi verhört, von ihrer Familie misstrauisch betrachtet und schließlich von dem Offizier Wickwalz als IM (Inoffizielle Mitarbeiterin), also alsInformantin, angeworben. „Der Roman erzählt vom Zurückbleiben“, sagt Gneuß und verweist damit auf eine Erfahrung, die seltener literarisch verarbeitet wird als die spektakulären Fluchtgeschichten. Ihre Großmutter habe das selbst erlebt: Während andere gingen, blieb sie zurück. Dass der Roman im Jahr 1976 spielt, ist bewusst gewählt. „Dieses Jahr ist ein Komma in der DDR-Geschichte“, erklärt die Autorin. Viele glaubten noch an den Sozialismus, während andere längst die Hoffnung verloren hatten. Paul, der Künstler werden will, sehnt sich nach Freiheit. Dass er Karin zärtlich „mein kleines Komma“ nennt, ist ein Symbol für diesen Schwebezustand, in dem ihre Lebenswege auseinanderdriften.
Gneuß trägt Passagen aus dem Roman mit spürbarer Ruhe vor, langsam und bedacht, mit Pausen, die den Text wirken lassen. Das Publikum folgt gebannt, als sie den ersten Abschied zwischen Karin und Paul liest. In einer zweiten Lesestelle steht die Figur Wickwalz im Mittelpunkt. Gerade ihn zeichnet Gneuß nicht als eindimensionalen Bösewicht. „Die Stasi waren unsere Mütter, Väter und Nachbarn“, betont sie. Wickwalz ist für Karin einerseits der autoritärste Mensch, den sie kennt, und andererseits jemand, der ihr das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden. Er nimmt sie mit auf Autofahrten, hört mit ihr Radio, sagt Sätze wie: „Wenn du meine Tochter wärst, wäre ich stolz.“ Die Figur Wickwalz macht nachvollziehbar, wie sehr Anerkennung und vermeintliche Nähe junge Menschen empfänglich für die Einflussnahme der Stasi machten. In der anschließenden Diskussion mit der Moderatorin des Abends, Dr. Kirsten Prinz, spricht die Autorin über ihre Arbeitsweise. Sie habe ihre Eltern nach ihrem damaligen Alltag gefragt, alte Schulaufgaben ausprobiert, um dem Leben in der DDR näher zu kommen. „Normalerweise erzählt man sich eher witzige Anekdoten. Mich interessierte der Alltag“, sagt sie. Der Roman sei „in Miniaturen entstanden“, kleine Szenen, die zusammen ein dichtes Ganzes ergeben. Diese Erzählweise macht Gittersee so lebendig, weil sie die Leserinnen und Leser mitten in den Alltag der Figuren stellt. Dass der Stoff auch für die Bühne taugt, zeigte sich früh: Das Berliner Ensemble adaptierte den Roman und brachte ihn erfolgreich auf die Bühne. Für Gneuß war dies anfangs ungewohnt, da sich die Perspektive verschiebt: „Im Roman schaut man durch die Augen der Hauptfigur, im Theater nimmt man die Sicht des Außenstehenden ein.“ Doch die anfänglichen Zweifel wichen der Begeisterung: „Die Karin hätte ich mir nicht besser vorstellen können.“ Inzwischen gibt es sogar erste Anfragen für eine Verfilmung – ein weiterer Beleg für die Kraft dieser Geschichte.
So verband dieser Abend Literatur und Erinnerung auf besondere Weise. In den Räumen des ehemaligen Notaufnahmelagers, wo einst politische Häftlinge, Flüchtlinge und Ausreisende ankamen, entfaltete Gneuß’ Roman seine Wirkung mit zusätzlicher Wucht. Die Zuhörerinnen und Zuhörer reagierten mit vielen Fragen, mit Komplimenten und schließlich mit langem Applaus. „Bis zum Ende total spannend“, fasst eine Stimme aus dem Publikum den Roman „Gittersee“ zusammen. Es war ein Abend, an dem Geschichte, Gegenwart und Literatur ineinandergriffen – getragen von einer jungen Autorin, die mit ihrem Gespür für Sprache und die Vielschichtigkeit von Erinnerungen das Vergangene lebendig werden ließ.
