Von Anna Magdalena Wecker
„In nur einem halben Jahrhundert hat sich Deutschland von einer homogenen zu einer super-diversen Gesellschaft entwickelt“, berichtet Prof. Dr. Juliane Dube und veranschaulicht damit die Wichtigkeit des Workshops. „Nichts ist selbstverständlich! Diversität im Bilderbuch“, so lautet der Titel der Fortbildung, die während des Gießener Bilderbuchfestivals angeboten wurde. Die Professorin für germanistische Literatur- und Mediendidaktik sowie ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Tim Tichy finden beide: Diversität müsse Berücksichtigung finden und das nicht nur, sondern vor allem auch in der Kinder- und Jugendliteratur. Stattgefunden hat der Workshop in der Stadtbibliothek Gießen. Bereits die ruhige Atmosphäre und bunt geschmückten Fenster ermöglichten ein Eintauchen und Ankommen in die Welt der Bücher. Die rund 20 Teilnehmer und Teilnehmerinnen, darunter Lehrkräfte, Angestellte von Bibliotheken, Eltern oder einfach Interessierte hatten sich für den Kurs angemeldet.
Ziel war es, „Kinder für die Vielfalt der Gesellschaft zu sensibilisieren, Unterschieden wertschätzend zu begegnen und diskriminierende Machtstrukturen kritisch zu reflektieren.“ Durch den täglichen Kontakt mit Büchern könne insbesondere Literatur dazu beitragen, „dass Kinder andere Perspektiven besser verstehen, Mitgefühl entwickeln und auch im Alltag lernen mit Diskriminierung umzugehen.“

Das Wort Diversität kommt zunächst aus der Biologie und bedeutet nichts anderes als Vielfalt. Deutschland ist heute solch eine empirisch belegbare Gesellschaft der Vielfalt. Seit 1950 sei es zu einem steten Anstieg der Diversitätsrate gekommen. In einer 25-köpfigen Schulklasse von 1975 hatten etwa 20% eine internationale Familiengeschichte. 2025 sind es bereits rund 68% der Kinder. „Soviel Migration wie jetzt gab es noch nie“, klärt Prof. Dr. Juliane Dube ihre Zuhörerschaft auf. Deutschland belege Top 3 der Einwanderungsländer weltweit (nach den USA und Australien) mit 21,2 Millionen Menschen, die einen Migrationshintergrund besitzen. Im Vergleich zu unserer reellen Lebenswelt sehe es mit der Diversität im Kinderbuch etwas mau aus. In nur 44% der deutschen Kinderbuchbestseller kommen nicht-weiße Figuren vor. In keinem dieser Bücher tritt eine BAME- Hauptfigur (Black, Asian and Minority Ethnic) auf. Wenn doch, dann begegnen sie uns als Randfiguren. Lediglich die Rollenverteilung ist einigermaßen gut gemischt. Dieses Ergebnis sei bedenklich, denn in Kinder- und Jugendliteratur sollten sich „alle finden können“. Bücher sollten Resonanzraum und Türöffner sein und die Gesellschaft realitätsnah abbilden.
Weiterhin problematisch sei, dass Diversität immer verbunden mit Macht und Ungleichheit auftrete. Es gehe darum, die Vielfalt menschlicher Unterschiede anzuerkennen und zu respektieren. Darüber hinaus liege es in unserer Verantwortung, kritisch zu reflektieren, wie gesellschaftliche Labels Menschen auf- oder abwerten können. 2010 äußerte Kübra Gümüşay, deutsch-türkische Autorin und Netzaktivistin, hierzu folgenden Satz: „Türkisch lernt man nicht, Türkisch verlernt man. Denn Türkisch ist nicht Französisch, Spanisch oder Englisch, sondern eine Sprache der Einwanderer.“ Erkennbar ist: Auch die Bewertung von Sprachen ist Ausdruck gesellschaftlicher Hierarchien. Aufgrund fehlender Anerkennung in der Bevölkerung oder schulischer Ignoranz werden Sprachen oft verdrängt. Statt einem Lernprozess findet ein Verlustprozess statt.
Dass es auch anders geht, zeigten Frau Prof. Dr. Juliane Dube und Herr Tichy in ihren mitgebrachten Werken. „Aschenputtel neu erzählt“ von Stephan Kalinski und Iain Botterill präsentiert das bekannte Märchen in ganz neuem Stil – insbesondere durch ein verändertes Frauenbild. Die Reduktion auf äußere Schönheit als weibliche Stärke wird ersetzt durch autonomes, selbstbestimmtes und unabhängiges Handeln der Frauenfiguren. In dem von Jackie Mc Cann und Aaron Cushley geschriebenen Buch „Denk dir 100 Menschen“ wird ganz neu über die Frage reflektiert, wer zur Mehrheit und wer zur Minderheit gehört. Die Weltbevölkerung wird auf eine greifbare Zahl von 100 Menschen reduziert und eröffnet so eine eindrucksvolle Perspektive auf globale Verhältnisse. Dabei wird nicht nur sichtbar, wie unterschiedlich Lebensrealitäten verteilt sind, sondern auch, wer tatsächlich zur Mehrheit zählt – mit teils überraschenden Ergebnissen, die zum Nachdenken anregen. Vorgestellt wurde auch „Lindbergh“ von Torben Kuhlmann, ein echter Klassiker, wobei die Hauptfigur, eine kleine Maus, die zum Mond fliegen möchte, als Identifikationsobjekt für alle dienen kann. Transportiert wird die Überzeugung, mit Mut und Zielstrebigkeit Großes erreichen zu können. Fortführend zeigt auch der Titel „Glitzertage“ von Annika Klee und Stella Eich, dass in jedem Menschen ein besonderes „Glitzerlicht“ verborgen liegt – eine innere Stärke, die uns befähigt, Herausforderungen zu meistern und unsere Ziele zu erreichen. Aber auch „Alis Nase“ von Yekta Kopan und Alex Pelayo, die von einem türkischen Jungen berichten, der seine Nase verloren hat und sich auf die Suche danach begibt, bereichern das Bücherregal im Kinderzimmer mit Humor und Fantasie.
Begleitend zur Buchvorstellung gab es einen Fragebogen. Auf inhaltlicher Ebene wurden Fragen angesprochen wie: „Spiegelt das Buch Alltagsrealitäten wider und ermöglicht es, andere Lebenswelten kennenzulernen?“, „Wird ein Konflikt friedlich und gemeinschaftlich gelöst?“ oder auch „Werden etablierte Vorstellungen von `Normalität` hinterfragt?“ Aber auch die Gestaltung von Kinderbüchern wurde nicht außer Acht gelassen. Frau Prof. Dr. Juliane Dube findet nämlich: „Ästhetik sowohl auf Bildebene als auch auf Textebenen sollte ein ganz, ganz starkes Kriterium sein.“ Eine Einladung, sich mit der Geschichte wirklich auseinandersetzen zu wollen.
Verleger, die sich bewusst um die Veröffentlichung diverser Kinderbücher bemühen. sind z. B. Fairy Tales Retold oder Jupitermond. Die meisten diversen Kinderbücher kommen durch Selbstverlage oder Betroffene. „Es ist nach wie vor noch sehr mühselig.“ Aber es tut sich etwas – auch hier in Gießen durch Veranstaltungen wie ebendiese. Die Zuhörerschaft war jedenfalls positiv überrascht. Eine Teilnehmerin, die selbst in einer Bibliothek arbeitet, berichtet, sie habe wertvolle Impulse bezüglich geeigneter Verleger und Auswahlkriterien der Bücher erhalten. Das alles müsse sie in jedem Fall ihrem Team weitergeben. Eine andere Teilnehmerstimme erzählt: „Mir haben die Themen sehr gut gefallen und ich nehme nun neue Bücherideen für meine Nichten und Neffen mit nach Hause. Es ist zudem sehr interessant zu sehen, wie Figuren in anderen Kontexten dargestellt werden können.“ Auch eine Lehrkraft, die an diesem Abend vor Ort war, bemerkt nach Abschluss des Workshops, sie habe sich viele Notizen gemacht, vor allem bezüglich der Buchauswahl. Es sei ihr ein Anliegen, gute Bücher im Unterricht zu nutzen.
Für die beiden Referent*innen steht fest: „Es liegt in unserer Verantwortung, Kindern Literatur zugänglich zu machen, die vorurteilsbewusste Maßstäbe erfüllen, unterschiedliche Lebensrealitäten sichtbar machen und zum kritischen Denken anregen.“
