Von Lisa Maria Lauckhardt

Anlässlich des Gießener Bilderbuchfestivals verwandelte sich am 27. Juni ein kleiner Raum im Gießener Prototyp in ein literarisches Wunderland. Vorgestellt wurde das Kinderbuch „Minna Melone – Wundersame Geschichten aus dem Wahrlichwald“ von Autor Sven Gerhardt. Das Buch ist als Sammlung kleiner Erzählungen aufgebaut: Jeden Abend erzählt die Wanderratte Minna auf ihrer kleinen Waldlichtungsbühne eine neue Geschichte.

Ein bunter Sitzkreis aus Sesseln, Sofas und Kissen bildete das Zentrum dieser kleinen Lesung in einer persönlichen Atmosphäre. Statt einer klassischen Bühne entschieden sich Sven Gerhardt und der Gebärdensprachdolmetscher Daniel Schneider spontan für eine direkte Sitzrunde auf Augenhöhe. Zu Beginn stellte Autor Sven Gerhardt den Kindern eine einfache, aber spannende Frage: Können Geschichten eigentlich wahr, halb wahr oder auch ganz ausgedacht sein? Damit öffnete er den Raum für Fantasie – und für die Erzählungen aus dem Wahrlichwald, in denen nicht immer klar ist, was wirklich passiert ist und was Minna Melone sich vielleicht nur ausgedacht hat. Besonders war auch die Form der Darbietung, denn Daniel Schneider saß während der gesamten Lesung direkt neben Sven Gerhardt und übersetzte alles, was gesagt wurde, live in Gebärdensprache. Ganz selbstverständlich und ohne erklärende Einleitung wurde Inklusion hier gelebt. Nicht als Programmpunkt, sondern als selbstverständlicher Teil der Veranstaltung. Gelesen, erzählt, gezeigt, gelacht und gestaunt wurde gemeinsam – für alle.

Gelesen wurde aus dem ersten Kapitel des Buches, in dem das Eichhörnchen Zara auf die Geschichtenerzählerin Minna Melone trifft, einer Wanderratte mit eigenem Stil. Sie trägt eine grüne Weste, einen roten Hut mit einer Feder und ihren stets gefüllten Rucksack voller Geschichten, die sie abendlich auf ihrer Wanderbühne erzählt. So wird Zara Zeugin von wahrlich abenteuerlichen Geschichten. 

Minna berichtet auf ihrer Waldbühne aus ihrem eigenen Leben, sodass sich die Zuhörer*innen genau wie die Waldbewohner*innen auf eine Erzählung einlassen. In dieser Geschichte verlässt Minna den düsteren Ort, an dem sie aufgewachsen ist und trifft auf die Piratin Barbara Rossa, mit der sie auf Schatzsuche geht. Besonders eindrücklich war dabei eine interaktive Karte mit Zahlenrätseln, bei der die Kinder mitdenken und mitraten konnten und so Minna bei der Schatzsuche halfen. Gemeinsam mit den Kindern wurde eine Suche nach dem sagenumwobenen Schatz von Rattlantis unternommen. Am Ende waren die Kinder erfolgreich – ganz wie im Buch. Im Anschluss stellte Sven Gerhardt den Kindern die Frage: Was gehört eigentlich alles in eine Schatzkiste? Die Antworten reichten von Gold über Edelsteine und führten schließlich zu Minnas Entdeckung in der Geschichte: einem goldenen Säbel. Genau diesen hatte Gerhardt als Requisite dabei, was die Geschichte für die Kinder noch greifbarer machte und den Bogen zwischen Fantasie und Wirklichkeit spannte.

Sven Gerhardt wurde 1977 in Marburg geboren und ist seit 2003 Kinderbuchautor. Er hat mit Reihen wie „Die Heuhaufen-Halunken“ oder „Mister Marple“ einen Namen im Kinderbuchbereich gemacht. Seine Bücher erscheinen im Arena Verlag und zeichnen sich durch Humor, Herz und liebevoll gezeichnete Figuren aus. Auch „Minna Melone – Wundersame Geschichten aus dem Wahrlichwald“ steht in dieser Tradition: fantasievoll, nah an der Lebenswelt von Kindern – und mit einem Augenzwinkern erzählt. Begleitet wird Gerhardt von Daniel Schneider, der die Geschichte in Gebärdensprache übersetzte. Seine Präsenz verlieh dem Nachmittag eine zusätzliche erzählerische Ebene. Besonders viel Freude hatten die Kinder daran, die Gebärden für den Satz „Jeden Abend ein Abenteuer“ selbst zu lernen und mitzumachen.

Die eigentliche Stärke des Buches liegt in seiner Struktur: Es ist so konzipiert, dass jede Geschichte für sich steht und jeweils ein Abend gefüllt werden kann mit einem neuen Abenteuer aus Minnas Leben. Und es gibt noch mehr zu entdecken: Mit „Zara Zylinder – Die sagenhafte Reise durch das Jemandsland“ hat Sven Gerhard bereits eine Fortsetzung vorgelegt. Im zweiten Band rückt Zara ins Zentrum und wird selbst zur Geschichtenerzählerin. Gerhard empfiehlt, zuerst Minna Melone zu lesen, um zu verstehen, wie alles begann.

Spannend war auch der Blick hinter die Kulissen: Per Projektion zeigte Gerhard Zeichnungen und Entstehungsvideos der Illustratorin Mareike Ammersken, die mit ihrem feinen Strich und verspielten Details den „Wahrlichwald“ visuell zum Leben erweckt hat. Gerhard, selbst mit künstlerischem Hintergrund, berichtete von der engen und zugleich freien Zusammenarbeit zwischen Autor und Illustratorin: Mareike Ammersken zeichnete auf Grundlage des fertigen Textes, Sven Gerhardt sah die Bilder – und spürte sofort, dass sie passten. So konnte sich die Geschichte weiterentwickeln, in einem kreativen Miteinander von Wort und Bild.

Die Lesung war ein offener, stiller, kommunikativer Raum geprägt von Nähe, Leichtigkeit und Teilhabe. Besonders die Übersetzung in Gebärdensprache eröffnete neue Perspektiven. Erzählen wurde hier zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis, das gehört, gesehen und mitgefühlt werden konnte. Und man konnte viel über das Erzählen nachdenken. Der Zauber von Minna Melones Welt liegt nämlich nicht nur in der fantasievollen Handlung, sondern vor allem in der Freiheit des Erzählens. Vielleicht ist es wahr, halb wahr oder von Minna ausgedacht. Aber das ist gar nicht so wichtig: Denn entscheidend ist nicht, ob alles stimmt, sondern dass erzählt wird.