Von Anna Magdalena Wecker
Es ist leise im Klassenraum. 19 Köpfe schauen erwartungsvoll an die Tafel. Die Lehrerin schreibt: „Wenn ich am Montag ins Schwimmbad gehe, pinkle ich NICHT ins Wasser!“ Alle lachen. Der Satz scheint treffend, angesichts der heißen Temperaturen an diesem Junitag so kurz vor den Sommerferien. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie ein ganz normaler Deutschunterricht einer Grundschule. Die Schüler*innen bestimmen die Wortarten und erweitern den Satz um lustige Adjektive. Es herrscht rege Unterrichtsbeteiligung, Nachfragen werden gestellt. Schließlich weist die Lehrerin Frau Y. auf das eigentliche Thema hin: Kommasetzung. „Kommas retten Leben!“, erklärt sie und lässt alle, einschließlich mich, neugierig aufhorchen. Das Beispiel „Komm wir essen (,) Opa!“ sorgt erneut für heitere Stimmung in der Klasse. Dabei kann eigentlich gar nicht von Klasse gesprochen werden. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Die evangelische Grundschule Freienseen spricht vielmehr von „Stammgruppe“. Hintergrund dafür ist der sogenannte jahrgangsübergreifende Unterricht. Die Schüler*innen lernen dabei in jahrgangskombinierten Gruppen zusammen. Praktisch bedeutet dies, dass im Deutschunterricht von Frau Y. Viert-, Fünft- und Sechstklässler*innen miteinander unterrichtet werden. Andernorts in Hessen beschränkt sich das gemeinsame Lernen auf jeweils zwei Klassenjahrgänge. In Schulen, die wie in Freienseen nach dem Alternativschulmodell Jena-Plan arbeiten, zählt das jahrgangsübergreifende Unterrichten auch für die höheren Stufen mit zur Grundkonzeption.
Wenn auch heute größtenteils in Vergessenheit geraten, gehört die Jahrgangsmischung doch von Anbeginn zu den Grundschulen. Als genauen Gründungszeitpunkt wird dabei das Jahr 1919 angenommen. Grundschulen wurden zunächst nicht als eigenständige Institution gegründet, sondern speisten sich aus der Volksschule und umfassten deren untersten vier Jahrgänge. Erst 1964 wurde die Grundschule eigenständig. Vor allem auf dem Land wurde aufgrund fehlender räumlicher und personeller Ressourcen zunächst mehrheitlich in jahrgangsübergreifenden Klassen unterrichtet. Eine spezielle Didaktik entwickelte sich jedoch erst durch Konzepte bekannter Reformpädagog*innen wie Maria Montessori (Montessori-Pädagogik), Peter Petersen (Jena-Plan) oder Berthold Otto (Hauslehrerschule). All jene Vertreter*innen kritisierten das Jahrgangsklassensystem und erkannten großes Potential in der altersübergreifenden Mischung. Die Trennung der Kinder wurde dabei als unnatürliches und prinzipiell nur in der Schule auftretendes Phänomen beschrieben. Jahrgangsmischung hingegen wirke sich positiv auf die kognitive und soziale Entwicklung der Schüler*innen aus.
Einen genauen Leitfaden für die Umsetzung jahrgangsübergreifenden Unterrichtens gibt es bis heute nicht. Auch die Grundschule in Freienseen bietet den Lehrkräften viel Freiraum für die eigene Gestaltung. Für Frau Y., die seit 2022 mit dem Jena-Plan arbeitet, ist vor allem das Sprechen und Zuhören gerade im Fach Deutsch von Bedeutsamkeit: „Ich lebe von der Unterhaltung mit den Kindern. Anstatt alles richtig schreiben zu können, ist es für mich wichtiger, die generelle Lust am Schreiben von Texten zu fördern.“ Grammatikunterricht oder Rechtschreibung werden bei ihr dabei immer parallel zu einem Unterrichtsthema behandelt. Dies bestätigt auch der Lehrer Herr F., der bereits seit 23 Jahren jahrgangsübergreifend unterrichtet: „Herzstück meines Deutschunterrichts ist das situative Lernen. Rechtschreibung, Grammatik und Textkompetenz sollen dabei am konkreten Beispiel und mit weiteren Unterrichtsinhalten thematisch verknüpft werden.“ Die Schüler*innen beschäftigen sich hierfür überwiegend selbstständig mit einem für sie individuell festgelegten Plan. Nur die Sechstklässler*innen von Frau Y. werden ab dem zweiten Halbjahr gesondert auf den Übergang an eine weiterführende Schule vorbereitet.
Die dadurch notwendige Differenzierung sei ein großer Vorteil, so Frau Y.: „Der Unterricht flutscht. Es gibt kein Versagen, kein demotiviertes Arbeiten.“ Als notwendige Komponente für die Durchführung eines solchen Unterrichts wird die Doppelbesetzung in der Stammgruppe angesehen. Frau F., gelernte Erzieherin und Doppelbesetzung in der Klasse von Frau Y., beschreibt ihren Aufgabenbereich dabei so: „Ich begleite den Unterricht die komplette Zeit mit und unterstütze den Lehrer, sei es in Kleingruppen oder durch Einzelförderungen. Letztlich greife ich da ein, wo ich gebraucht werde.“ Frau F. erlebt den jahrgangsübergreifenden Unterricht dabei durchweg positiv: „Hier gibt es Platz zum Wachsen – für jeden!“ Auch die Viertklässlerin L. äußert hierzu: „Ich arbeite gerne mit älteren Schülern zusammen. Toll ist, dass sie einem wirklich helfen wollen und nicht nur, weil man fragt.“ E. aus der dritten Klasse bestätigt dies: „Man kann sehr viel helfen, das finde ich richtig toll. Wenn ich schon etwas kann, kann ich das den anderen erklären.“ Viel Freude im Deutschunterricht bereite den Kindern vor allem das Schreiben eigener Geschichten.
Allerdings ist der Unterricht mit einem erheblich höheren Arbeitsaufwand für die Lehrkraft verbunden. „Man muss sich schon überlegen: Will ich so viel Zeit investieren?“, findet Frau Y. Ebenso werden räumlich und personell deutlich mehr Ressourcen benötigt und auch nicht jedes Kind kann unmittelbar mit einem solch offenen Unterrichtskonzept problemlos umgehen. Trotz aller Herausforderungen und Investitionen steht auch Frau Y. voll und ganz hinter dem jahrgangsübergreifenden Unterricht, vor allem, „weil Förderung in alle Richtungen flexibler möglich ist.“
Für Schülerin L. steht jedenfalls fest: „Diese Schule ist einzigartig!“. Dass der jahrgangsübergreifende (Deutsch-)Unterricht funktionieren kann, das zeigen Lehrkräfte und Schüler*innen wie die der evangelischen Grundschule Freienseen jeden Tag. Es geht um das Bemühen, den Lernort Schule im Sinne der Kinder besser gestalten zu wollen. Denn eins ist für Frau Y. sicher: „Es wird definitiv Zeit, den klassischen Deutschunterricht zu revolutionieren – weg vom klassischen Rechtschreib- und Grammatikunterricht. Lernen sollte nachhaltiger funktionieren als von Doppelseite zwei zu drei!“