Von Lea Göllner
Wie lassen sich die Lebenswege jüdischer Menschen anhand ihrer Bücher rekonstruieren? Dieser Frage widmete sich die Veranstaltung Bücher im Exil: Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer – Lesung und Gespräch mit Robert Jütte, die am 14. Dezember 2023 um 19 Uhr im Zeitschriftenlesesaal der Universitätsbibliothek in Gießen stattfand. Dies war die letzte Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) und der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) im Jahr 2023.
Die Gießener Universitätsbibliothek ist heute ein Ort der Forschung und des Bewahrens. So war der Veranstaltungsort passend gewählt. Direkt nebenan befindet sich nämlich der Oskar-Singer-Raum. Dort ist unter anderem Judaica, Literatur jüdischer Tradition, aufbewahrt und für eine wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit unter Aufsicht zugänglich. Besonders hervorzuheben sind die Bände aus der Privatbibliothek des Rabbiners David Sander, der 1939 in Gießen verstarb. Dr. Peter Reuter, Leiter der UB, wies auf diesen besonderen Bestand auch in seiner Begrüßung hin und machte auf den aktuellen Artikel im Uniforum aufmerksam.
Doch welche Wege gingen Bücher, die ins Exil mitgenommen wurden? Darüber forschte Professor Robert Jütte in seinem Band „Bücher im Exil. Lebensspuren jüdischer Besitzer“. Jütte studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte in Marburg, London und Münster. Er unterrichtete unter anderem Neuere Geschichte in Haifa. „1978 war ich das letzte Mal in Gießen“, merkte der Historiker an. Es sei also höchste Zeit für ihn, der Universitätsstadt erneut einen Besuch abzustatten, zumal er mit einer Überraschung aufwarten könne.
„Wenn man in den Ruhestand geht, wird es Zeit, die Privatbibliothek, die sich im Arbeitszimmer angesammelt hat, auszudünnen“, so Jütte. Zehn Bücher seiner Judaica-Sammlung hatten für ihn eine besondere Bedeutung, erzählte er. Diese verfügten über „Ex libris, Besitzvermerke, Stempel“. Er beschloss auf Spurensuche zu gehen und nach den ehemaligen Besitzer*innen diese Bücher zu suchen. In seinem Vortrag legte er den Fokus auf einen Palästina-Reiseführer aus Haifa. „Dieser war ein Geschenk von Elisabeth und Siegfried Stern an ihren Bekannten Ernst, wie durch die Widmung zu erfahren ist. Wer Ernst ist, blieb jedoch unklar.“
Jüttes aufwändige Recherchearbeit ergab: Bei den Eheleuten Stern handelte es sich um den Anwalt Siegfried (jüd. Name Slomo) Stern und seine Ehefrau, die Lehrerin Elisabeth (jüd. Name Elisheva) Stern. Die beiden lernten sich in Augsburg kennen, wanderten aber zu unterschiedlichen Zeiten nach Palästina aus und lebten anschließend gemeinsam in Haifa. Nach dem Tod Siegfried Sterns im Jahr 1959 zog Elisabeth zu ihrer Tochter in den Kibbuz Maoz Haim. Jütte erinnerte sich, dass er diesen Kibbuz im Jahr 2010 besuchte und sogar die damals 104-jährige Elisabeth Stern traf. Er kam jedoch erst ein Jahr nach diesem Aufenthalt in den Besitz des Reiseführers. Während seiner Recherche konnte er Elisabeth dann nicht mehr befragen, da diese im Mai 2012 verstarb.
Da ihn die Frage nach der Identität Ernsts umtrieb, stellte er weitere Nachforschungen an, die jedoch alle ins Leere liefen. Erst nach seiner Veröffentlichung „Bücher im Exil“ erfolgte dann endlich die Auflösung: Bei dem Unbekannten handelt es sich um Ernst-Ludwig Chambré, 1909 in Lich geboren und gestorben 1996 in den USA, wohin er während des Holocausts mit seiner Ehefrau geflüchtet war. Chambré ist der Namensgeber einer Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die „Erinnerung an das hessische Judentum aufrecht zu erhalten“. Die Stiftung wurde 1997 nach Chambrés Tod gegründet, von ihm jedoch finanziell ausgestattet und auch an der Festlegung der Zielsetzung war er beteiligt. Die Stiftung fördert beispielsweise Projekte und Publikationen der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) am germanistischen Institut der Justus-Liebig-Universität. Gemeinsam mit der JLU finanziert sie außerdem seit dem Jahr 2017 die Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur und ihre Didaktik am Institut der JLU. Kein Wunder also, dass Professor Sascha Feuchert, der Leiter der AHL, von dieser Entdeckung begeistert war.
Im Anschluss an Jüttes Vortrag folgte eine kurze Einführung in die Gießener Raubgutbestände durch Doktor Roland Schneider. Dabei lenkte er den Blick insbesondere auf die bereits erwähnte Privatbibliothek David Sanders, der als Lehrer an allen Gießener Gymnasien und als Seelsorger im Gefängnis in Butzbach-Rockenberg tätig war. Nach langer Suche wurden die Nachkommen Sanders in Frankreich ausfindig gemacht. „Ich dachte, französische Meldeämter wären genauso wie deutsche Behörden. Aber dem war nicht so“, berichtete Schneider über die beschwerliche Suche nach den Erb*innen der Privatbibliothek. Über das Auswärtige Amt war es aber doch noch möglich, die Nachkomm*innen ausfindig zu machen, die jedoch die Bücher nicht zurückhaben wollten und der UB Gießen überließen.
„Die Sammlung ist zwar nicht öffentlich zugänglich, nach Anfrage zu Forschungszwecken im Sonderlesesaal aber unter Aufsicht zu betrachten“, schloss Schneider seinen Vortrag. Was Exil, Spurensuche nach Büchern und Erinnerung an ihre Eigentümer*innen für Gießen bedeutet, war an diesem Abend konkret erfahrbar.
Robert Jütte: Bücher im Exil. Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer. Metropol Verlag 2022. 19 EUR. ISBN: 978-3-863-31658-7.
Bericht im Uniforum, 36 (2023), H. 5, 14.12.2023, S. 11 über David Sander: https://jlupub.ub.uni-giessen.de/bitstream/handle/jlupub/18815/uniforum-2023-05.pdf?sequence=1&isAllowed=y