© Hannah Brahm

Im Buchclub der Germanistik entdecken Studierende den Literaturkanon für sich

von Dana Lissmann

„Das Werk müssten Sie kennen, Sie sind doch Germanistikstudierende!“ Wer kennt diesen Satz nicht? Oder das Gefühl, unter den Tisch sinken zu wollen, wenn Dozierende bemerken, dass man den Literaturkanon – also bedeutende Werke der Literatur – nicht vollständig gelesen hat. Sandra Binnert und Felix Luckau ging es ähnlich, bis Binnert eine Idee hatte: „Ich erfuhr, dass die Anglistik eine Buchgemeinschaft hat und wollte eine für die Germanistik machen.“ Binnert promoviert zum Thema „Unterdrückte Narrative in der Holocaustliteratur“ an der Justus-Liebig-Universität (JLU). Luckau studiert dort in seinen letzten Semestern Deutsch und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien. Beide sind für die Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) an der JLU tätig. Zusammen gründeten sie im April 2021 den Buchclub der Germanistik.

Den Literaturkanon wiederentdecken

Aber was genau ist der Buchclub? „Leuten, die Lust am Lesen haben“, möchte das Duo ermöglichen, gemeinsam über kanonische Werke zu reden. „Ich würde Die Buddenbrooks niemals allein lesen“, erklärt die Doktorandin ihre Motivation, diese Runden ins Leben zu rufen. Thomas Manns Gesellschaftsroman stellt den Zerfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie dar. Mit ihm gewann Mann 1929 den Literaturnobelpreis. Das Werk umfasst je nach Ausgabe rund 800 Seiten. Ihr Kollege ergänzt: „Wenn ich in meiner Freizeit die Wahl zwischen einer aktuellen und einer älteren Lektüre habe, nehme ich die aktuellere.“ Gemeinschaftlich den Kanon kennenlernen und ein „literarisches Gespräch führen“, bei dem die Texte frei diskutiert werden – das sind die Ziele des Buchclubs. Mitmachen können alle, egal, ob Bachelor-, Master-, Lehramtsstudierende oder junge Lehrkräfte, die von den Treffen gehört haben. „Wir haben eine Tabelle mit Kanonliteratur, die wir einfach mal gesammelt haben“, erläutert Binnert die anfängliche Buchauswahl. Vorschläge der Teilnehmenden werden ebenfalls notiert. Inzwischen seien es über 30 Bücher und die Liste wachse stetig weiter. Am Ende jeder Sitzung werden drei Werke zur Auswahl gestellt und die Mitglieder wählen gemeinsam die neue Lektüre aus. Anfangs orientierten sich die Leiter*innen am deutschsprachigen Kanon, an Nobelpreisträger*innen, Schulwerken und Klassikern wie Schillers Drama Die Räuber. Seit einer Abstimmung in der dritten Sitzung weiten sie ihren Kanon aus und wollen nun „international lesen“, also nicht-deutschsprachige Werke besprechen. Bislang konnten sie das allerdings noch nicht umsetzen.

Spaß am literarischen Gespräch

„Ich lese sehr gerne“, erklärt Melissa Heitzenröder auf die Frage, warum sie dem Buchclub beigetreten ist. Sie hat inzwischen ihre ersten Staatsprüfungen für Lehramt an Grundschule und Gymnasien an der JLU abgelegt und sieht einer Promotion in Literaturdidaktik zu Fantasyliteratur entgegen. „Es macht mir großen Spaß, über Texte zu diskutieren und sie gemeinsam zu interpretieren, ohne zu einem festen Ergebnis kommen zu müssen.“ Eine Leidenschaft, der sie im Club nachgehen kann. Besonders gefallen ihr der „respektvolle“ Umgang in der Runde und die „lockeren Atmosphäre“: „Man kann alles sagen, unterschiedlicher Meinung sein und miteinander lachen, dennoch sind die Äußerungen stets gut überlegt und man lernt wirklich Neues voneinander.“ Sei es eine unerwartete „Sichtweise auf den Text“, Hinweise zu Autor und Epoche oder eine Buchempfehlung. Als sie den Roman Homo Faber besprachen, entdeckte Heitzenröder dessen Autor Max Frisch für sich. Ein Gruppenmitglied legte ihr daraufhin Frischs Drama Andorra ans Herz.

Auch die Moderation sei „super“, denn die Leiter*innen geben „Denkanstöße“, die neue Blickwinkel eröffnen, so die Teilnehmerin. „Wir wollen nichts vorgeben“, beschreibt Binnert ihre Rolle während der Veranstaltung. Sie und Luckau bereiten die Lektüre zwar vor und werfen gelegentlich Hintergrundinformationen in den Ring. Sie greifen aber nur ein, wenn die Mitglieder nicht mehr weiterwissen, was selten der Fall sei. Ziel sei ein freier Austausch. Um ein zwangloses Gespräch aufkommen zu lassen, halte sich das Duo daher bewusst zurück. In diesem Sinne sammeln sie zu Beginn der Treffen erste Eindrücke zur jeweiligen Lektüre, bevor diese dann in offener Debatte vertieft werden. Die Teilnehmenden deuten von selbst Punkte heraus, über die sie reden wollen. Über Figuren, Beziehungen, Motive, Form und Sprache wird unbeschwert diskutiert, eigenes Fachwissen wird geteilt. Gegen Ende rufen die Moderator*innen die Gruppe zu einer „Blitzlicht“-Runde auf, in der jeder kurz mitteilen kann, was er oder sie aus dem Meeting mitgenommen hat. „Was wir besprechen, machen wir für alle zugänglich“, erläutert Luckau. Dafür schicken sie ein Handout mit wichtigen Punkten und Rechercheempfehlungen an die Mitglieder. Auch an die, die nicht kommen konnten. Es sei ihnen wichtig, dass sich niemand gezwungen fühlt, immer dabei zu sein. Die Teilnahme sei, wie das Gespräch selbst, locker und offen, ein freundliches Angebot – und momentan via Microsoft Teams. Alle sechs bis acht Wochen versammeln sie sich. Inzwischen haben sie über 20 Mitglieder in ihrem Emailverteiler. An die zehn fänden sich meistens zu einer Runde zusammen. „Wir sind mega glücklich. Diese Anzahl schaffen manche Seminare nicht.“ Die Treffen seien nicht begrenzt: „Wer Interesse hat, darf kommen!“ Es reicht dafür einen der beiden über ihre Emailadressen anzuschreiben: Sandra.Binnert@lehramt.uni-giessen.de und Felix.Luckau@lehramt.uni-giessen.de.