Von Leonie Dittrich

Wie haben Menschen im 17. Jahrhundert gesprochen und geschrieben? Welche grammatischen Strukturen sind in 400 Jahre alten Texten zu finden und wie waren Sätze aufgebaut? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich Mathilde Hennig, Professorin für Germanistische Linguistik mit dem Schwerpunkt Sprachtheorie und Sprachbeschreibung an der Justus-Liebig-Universität (JLU). Gemeinsam mit ihrem Team arbeitet sie derzeit an dem Forschungsprojekt „Syntaktische Grundstrukturen des Neuhochdeutschen“. „Die Epoche des Neuhochdeutschen ist eben nicht nur Goethe und Schiller. Da gibt es noch so viel mehr zu erforschen“, berichtet die Wissenschaftlerin in einem Gespräch über Skype. Das Projekt, das den Namen „GiesKaNe“ („Giessen-Kassel-Neuhochdeutsch“) trägt und von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) unterstützt wird, ist auf 12 Jahre angelegt. Im Fokus steht die Frage, wie sich Grammatik und Satzbau in der Zeit zwischen 1650 und 1900 entwickelt haben. Aber auch Veränderungen im alltäglichen Sprachgebrauch und die Art, wie einfache Menschen geschrieben haben, sind für das Forschungsteam relevant. 

Das Projekt startete im Oktober 2016 und ist eine Kooperation von Mitarbeitern der Universitäten Gießen und Kassel. „Ich bin kein Mensch, der gern allein in der Kammer sitzt, um zu forschen, sondern ich arbeite am liebsten gemeinsam mit meinem Team“, erläutert Mathilde Hennig. Da die Syntax, also der Satzbau dieser Zeit nicht sehr ausführlich erforscht sei und es keine umfassende Grammatik des Neuhochdeutschen gebe, könnten noch viele neue Erkenntnisse gewonnen werden, berichtet Hennig. Die Epoche von 1650 bis 1900 sei von besonderer Bedeutung, da sie zentral für die Entstehung von modernen Umgangs- und Regionalsprachen sei. Außerdem zeige sich zu dieser Zeit die Unterscheidung von Textsorten, Textstilen und literarischen Gattungen besonders deutlich, informieren die Wissenschaftler auf der Webseite „GiesKaNe“. Ziel des Forschungsprojekts ist es, die theoretischen Grundlagen für eine Syntax des Neuhochdeutschen zu legen.

Über ihre tägliche Arbeit führt Hennig aus: „Wir machen in erster Linie Korpus-Analysen. Wir legen Korpora an, also Textsammlungen, die entsprechend der Fragestellung analysiert werden. Anschließend werden nicht nur die Untersuchungsergebnisse veröffentlicht, sondern auch die Korpora, damit andere Wissenschaftler ebenfalls davon profitieren.“ Anhand vieler Textbeispiele wird also die Sprache hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Funktionen und Strukturen untersucht. Zur Veranschaulichung führt das Forschungsteam auf der Webseite des Projekts beispielsweise auf, dass es im älteren Deutsch eine Reihe von schwachen Verben gibt, die heute stark flektiert werden: Anstelle der starken Verben litt, rief, soff, bat, schoss, schien sind in einem autobiographischen Text des Kannengießers Augustin Güntzer die schwachen Verben leidete, ruffete, sauffetn, bitete, schießete, scheinet zu finden. Im Bereich der Wortbildung nennen die Linguisten als weiteres Beispiel das Wort „Nachtimes“ (Nachtimbiss), das im heutigen Sprachgebrauch so viel wie „Abendessen“ bedeutet.

Das Korpus des „GiesKaNe“-Projekts setzt sich aus Alltags- und Wissenschaftstexten, Gebrauchsliteratur und Belletristik aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert zusammen. Insgesamt 864.000 Wortformen sollen auf lange Sicht bei der Analyse berücksichtigt werden – rund 288.000 Wortformen pro Jahrhundert. Das Forschungsteam analysiert beispielsweise Texte aus den Bereichen Theologie, Geographie oder Medizin, aber auch Reiseliteratur oder Prosatexte sind von Relevanz. Die Analyse grammatischer Strukturen trage entscheidend zur semantischen Interpretation, also der Wort- und Satzbedeutung, bei und unterstütze auch andere textbezogene Wissenschaftsdisziplinen. 

Dass kulturelles und sprachgeschichtliches Hintergrundwissen notwendig ist, um rund 400 Jahre alte Texte verstehen zu können, zeigt auch das unten abgebildete Analysebeispiel aus dem Jahr 1657. Die Äußerung ist ein Ausschnitt aus der Autobiographie „Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben“ des Elsässers Augustin Güntzer. „Der Satz stammt aus einem Bericht eines Kannengießers, der als relativ einfacher Mann in Europa herumgereist ist und über seine Erfahrungen geschrieben hat“, erklärt Hennig. „Oben ist die Handschrift abgebildet und unten die Analyse im Konstituentenstrukturformat zu sehen.“ Konstituenten sind die einzelnen Bestandteile, in die ein Satz zur Analyse zerlegt werden kann. Die einzelnen Wortformen der Sätze wie „beße“ oder „Merdter“ werden dann bei der Analyse auf mehreren Ebenen analysiert und die Informationen zu Strukturen, Satzgliedern, semantischen Rollen, Wortgruppen sowie Wortarten erfasst.  

Mit verschiedenen Themen der Linguistik beschäftigt sich Mathilde Hennig seit ihrem Studium. Hennig hat selbst Deutsch als Fremdsprache studiert, da sie „als ehemalige DDR-Bürgerin die große weite Welt reizte“. 1999 promovierte sie mit einer Dissertation über „Tempus und Temporalität in geschriebenen und gesprochenen Texten“. Damals habe sie gestört, „dass es in diesem Themengebiet eine große Theoriediskussion gibt, die aber die Verhältnisse im natürlichen Sprachgebrauch eigentlich vernachlässigt.“ Insbesondere die unterschiedlichen Darstellungen, also beispielsweise uneinheitliche Definitionen oder Terminologien in verschiedenen Grammatiken, habe sie verwundert und gleichzeitig ihren Ehrgeiz geweckt, sich tiefergehend mit linguistischen Fragestellungen auseinanderzusetzen: „Wie viele Tempora gibt es im Deutschen? Sind es sechs, zehn oder sogar zwanzig?“ Mit dem Thema der neuhochdeutschen Syntax wird sich die Professorin wohl noch mehrere Jahre beschäftigen. 

Auch mit der Germanistik im Ausland hat Mathilde Hennig bereits Erfahrung gemacht: Drei Jahre lang arbeitete sie im ungarischen Szeged als DAAD-Lektorin (Deutscher Akademischer Austauschdienst). „In Ungarn und vielen anderen osteuropäischen Ländern ist das Niveau der Auslandsgermanistik sehr hoch“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Der Vorteil sei, dass die Studierenden nicht erst Deutsch lernen müssten, sondern wie in Deutschland gemeinsam wissenschaftlich gearbeitet werden könne. 

Ein weiteres Thema, mit dem sich die Germanistin zurzeit gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Niemann beschäftigt, sind Ratgeber. „Es gibt ja alle möglichen Ratgeber zur Hundeerziehung, zur Selbstoptimierung, zum Tindern…“, erzählt Hennig. Ratgeber seien auf dem aktuellen Buchmarkt sehr präsent und gesellschaftlich relevant. Bei der Untersuchung dieser Textsorte gehe es darum, wie Ratgeber auf sprachlicher Ebene funktionieren. Wie wird Rat gegeben? Wie ist die Beziehung zwischen Ratgebendem und Ratsuchendem? „Wir interessieren uns schwerpunktmäßig für Ratgeber zur Selbstoptimierung, wie man seine eigene Persönlichkeit sowie seinen beruflichen Erfolg optimieren kann.“ Ziel ist es, auch in diesem Bereich gemeinsam ein Projekt zu entwickeln. Das Themenspektrum, mit dem sich Mathilde Hennig beschäftigt, ist vielfältig und reicht von einer historischen Perspektive auf Sprache bis zu aktuellen linguistischen Themen. Sich dabei kritisch mit Zusammenhängen auseinanderzusetzen, eigene Ideen zu entwickeln und zu verfolgen, versucht Mathilde Hennig auch an Studierende weiterzugeben: „Mir ist es wichtig, dass man immer was zu knobeln hat, es muss ein bisschen knifflig sein. Als Student soll man nachvollziehen können, warum es nicht einfach nur eine wissenschaftliche Wahrheit gibt und warum es manchmal auch kompliziert ist.“ 

Link zum Forschungsprojekt: https://gieskane.com

Visualisierung einer analysierten Passage aus Augustin Güntzers Kleinem Biechlin von meinem gantzen Leben (1657). Grafik: Stephanie Lotzow. https://gieskane.com/