Von Leonie Dittrich

„Wie kann man verstehen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt?“ Diese Frage veranschaulicht die deutsch-amerikanischen Autorin Nora Krug auf einmalige Weise in ihrem Buch Heimat, das sie auch als „Graphic Memoir“ beschreibt. In der Tat zeichnet sie die eigenen Familiengeschichte buchstäblich nach: Jede Seite eröffnet eine andere Facette dieser familiären Spurensuche, veranschaulicht durch farbige Illustrationen, Bilder, Fotos, Dokumente und Comicelemente. Zugleich stößt dieses besondere Lese- und Seherlebnis weitere Fragen an: Was bedeutet Heimat und wonach haben Menschen Heimweh? Ist Heimat der Ort, an dem wir geboren werden und unsere Kindheit verbringen? Oder ist Heimat gar kein Ort, sondern ein Gefühl? Gerade die vielfältigen Migrationsbewegungen scheinen die Bedeutung von Herkunft und eigenen Wurzeln noch weiter zu stärken – nicht zuletzt seit den Flüchtlingsströmen im Jahr 2015. Laut UNO-Flüchtlingshilfe befinden sich weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Alle zwei Sekunden flieht ein Mensch. Nora Krugs besondere bildlich-erzählende Darstellungsweise passt folglich in die aktuellen Debatten um Migration, globale Mobilität, aber auch um die Suche nach Identität. Den eigentlichen Ausgangspunkt bildet indes Krugs persönliche Familiengeschichte. Für sie wählte die heute in New York lebende Autorin und Illustratorin eine ganz besondere Darstellungsform: Sie gab ihren Erinnerungen nicht nur literarischen Ausdruck, sondern illustrierte sie auch. 

© Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum. München: Penguin Verlag 2018. 288 Seiten. 28,- EUR. ISBN 978-3-328-60005-3 

Die virtuelle Lesung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) am 2. Februar 2021 fand ebenfalls unter besonderen Bedingungen statt: Nora Krug ist live aus ihrem Apartment in Brooklyn zugeschaltet und berichtet über die Arbeit an ihrem Buch und ihren persönlichen Erfahrungen. Krug, die 1977 in Karlsruhe geboren wurde, lebt seit fast zwanzig Jahren gemeinsam mit ihrem jüdischstämmigen Ehemann in New York. In Heimat fragt sich die Autorin, wie die NS-Zeit die Generation ihre Eltern und Großeltern geprägt hat und sie setzt sich damit auseinander, wie die Frage nach Schuld und Unschuld die Identität als Deutsche*r bis heute prägt. Aufgrund der Tatsache, dass Krug deutsche Staatsbürgerin ist, wird sie seit ihrer Kindheit mit dem Holocaust und der Frage nach kollektiver deutscher, aber auch individueller familiärer Schuld konfrontiert. „Jedes Mal, wenn ich als Jugendliche ins Ausland reiste, reiste meine Schuld mit mir“, heißt es beispielsweise in einem Kapitel ihres Buches. Begleitet wird diese Aussage durch eine Comiczeichnung. Sie zeigt einen Jungen, der der jugendlichen Nora Krug auf einer Party in England „Heil Hitler“ zuruft.

Während der digitalen Lesung erzählt Krug den ungefähr 130 Zuhörern, dass sie erst in New York realisiert habe, wie sehr sie immer auch als Repräsentantin Deutschlands wahrgenommen werde. Gleichzeitig habe erst der räumliche Abstand eine produktive Beobachtung ermöglicht: „Wenn man für längere Zeit im Ausland lebt, nimmt man sein Heimatland aus einer anderen Perspektive wahr. Ich hätte Heimat nie geschrieben, wenn ich nicht nach Amerika gezogen wäre“, berichtet die 44-Jährige. Gerade im multikulturellen New York werde sie in ihrem Alltag häufig auf ihre deutsche Identität angesprochen und somit zwangsläufig auch auf die deutsche Vergangenheit. 

In ihrem Buch, das auch Dokumente der NS-Zeit und eigen Familienfotos zeigt, nehmen vor allem ihr Großvater mütterlicherseits und ihr Onkel, der Bruder ihres Vaters, eine zentrale Rolle ein. In den zwei Jahren Recherchearbeit für ihr Buch stieß die Autorin auf die Geschichte ihres Großvaters Willi, der als Fahrlehrer in Karlsruhe arbeitete und zu Kriegszeiten als Soldat in Belgien stationiert war, wo er als Fahrer eingesetzt wurde. 

Während dieser archivarischen Spurensuche stellt sich Nora Krug immer wieder die Frage nach Schuld und Mitläuferschaft: Onkel Franz-Karl starb bereits als 18-jähriger SS-Soldat in Italien. „War er stolz darauf gewesen, im Krieg zu kämpfen? Hatte er Angst?“ fragt sich die Erzählerin vor allem, nachdem sie alte Schulhefte des Onkels gefunden hat, die mit Hakenkreuzen verziert sind. Neben Funden wie diesen veranschaulicht Krug auch ihre persönlichen Empfindungen über den Umgang mit der deutschen Geschichte. Über ihre Schulzeit schreibt sie: „Wir lasen Schiller, aber verehrten ihn nicht ganz so sehr wie Shakespeare. Wir strichen Worte wie Held, Kampf und Stolz aus unserem Vokabular, wir vermieden Superlative und wir verwendeten das Wort „Zusammenhörigkeitsgefühl“ ausschließlich, wenn wir versuchten, das amerikanische Lebensgefühl zu beschreiben, nicht jedoch unser eigenes“. Ein mulmiges Gefühl scheint bis heute mitzuschwingen, wenn Nora Krug über ihre deutsche Identität nachdenkt. 

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Dennoch bezeichnet sich die Autorin in ihrer Graphic Memoir selbst als „heimwehkranke Auswanderin“ und es werden einige Dinge aufgelistet, die sie aus Deutschland vermisst. Denn was gibt es Besseres als eine Scheibe deutsches Brot? Wenn die Autorin auf Besuch in Deutschland ist, sei eine Bäckerei der erste Ort, den sie aufsucht. Auch den Wald verbinde sie mit Heimat, hier fühle sie sich beschützt fühlt und könne zur Ruhe kommen. Neben dem typisch deutschen Leitz-Aktenordner, den die Illustratorin in wichtigen Angelegenheiten ihres Lebens verwendet oder einer Wärmflasche, listet Krug auch Hansaplast-Pflaster in ihrem „Katalog deutscher Dinge“ auf. „Es gab für mich nichts Verlässlicheres als meine Mutter und Hansaplast“ ist unter der Zeichnung zu lesen. Erinnerungen scheinen folglich erst ein Heimatgefühl hervorzubringen: 

Während der virtuellen Lesung fragt eine Zuhörerin, ob Amerika nun Krugs neue Heimat sei – nicht nur aufgrund der Tatsache, dass die Autorin mittlerweile seit 18 Jahren mit ihrer Familie in den USA lebt, sondern auch, weil die Deutsch-Amerikanerin während der Veranstaltung häufig nach deutschen Wörtern zu suchen scheint. Doch die Autorin hat eine klare Antwort: „Amerika kann nie meine Heimat sein, weil ich als Kind nicht von diesem Land geprägt wurde. Ich sehe Amerika als mein Zuhause und Deutschland als meine Heimat“. 

Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum. München: Penguin Verlag 2018. 288 Seiten. 28,- EUR. ISBN 978-3-328-60005-3 

Links:

Informationen zu Nora Krugs „Graphic Memoir“ Heimat auf der Seite des Penguin Verlags: https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Heimat/Nora-Krug/Penguin/e471258.rhd

Nora Krugs Homepage mit zahlreichen Illustrationen: