https://pixabay.com/de/photos/frau-verzweifelt-traurig-tr%c3%a4nen-1006100/, Foto: Counselling

Von Josephine Ellermeyer

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Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt besitzt bereits am Anfang der Geschichte eine überwältigende Kraft:

„Sie erhebt sich, und niemand achtet darauf, weil sie denken: Sie hat es vergessen, sie hat doch gekocht, weil sie denken: Sie ist die Mutter. Sie ist mit drei Schritten vom Abendbrottisch bei der Balkontür, öffnet sie, schaut nicht zurück, macht noch zwei Schritte. Und dann diesen einen.“ Diese Worte bereits zu Beginn zu lesen und auf diese Weise in die Geschichte eingeführt oder eher ‚hineingeworfen‘ zu werden, ist erschütternd. Helenes Suizid ist das erste, von dem die Leser*innen erfahren.

Zurück bleiben drei Kinder, darunter die Teenagertochter Lola, außerdem Helenes Mann Johannes sowie ihre beste Freundin Sarah. Die Wut, die bleibt ist die Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen, der anscheinend an den gesellschaftlichen Anforderungen scheitert und entschließt, alles hinter sich zu lassen. Wut ist ebenfalls das Gefühl, das Sarah und Lola empfinden, während ihnen jeweils bewusst wird, wie sehr ihr Leben von Fremdbestimmung geprägt ist, immer darauf bedacht, den Erwartungen anderer zu entsprechen.

Zwei Erzählstränge führen durch den Roman: Abwechselnd wird aus Lolas und Sarahs Perspektive die Verlusterfahrung und das damit einhergehende emotionale Chaos erzählt, das nach Helenes Tod omnipräsent ist.

Was geschieht mit der Familie, in der Helene in ihrer Funktion als Mutter fehlt? Sarah findet sich zunehmend in der Rolle als Mutterersatz und den damit verbundenen Zuschreibungen, die ganz selbstverständlich an Weiblichkeit und Sorgearbeit geknüpft sind. Während Sarah ihr bisheriges Leben unter patriarchalen Strukturen zuerst verkennt, wandelt Lola sich explosionsartig. „‘Du bist erbärmlich‘, sagt Lola und macht einen Schritt zurück, weg von Sarah, ‚ihr alle. Ihr denkt, ihr habt die große Freiheit, dabei seid ihr umgeben von den Gitterstäben der Gesellschaft und checkt nicht mal, dass ihr im Käfig hockt.‘“ Lola erkennt in ihren jungen Jahren bereits ganz klar die geschlechterbedingten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Sie ist belesen und weiß, was sie nicht will. Sie eckt an und provoziert. Sie ist wütend und in ihrer Wut alles andere als leise. Aber auch Sarah beginnt, sich in ihren vertrauten Mustern zu winden, diese zu hinterfragen und sukzessive zu verlassen: „Da ist eine neue Energie in ihr, das ist Sarah bereits im Sommer aufgefallen. Ein Unwille, sich einzuordnen, unterzuordnen, und eine stets weiter wachsende Unfähigkeit, sich zu kontrollieren.“

Bewusst bricht der Roman mit den Erwartungshaltungen der Leser*innen. Es wird mit zentralen Störfaktoren gearbeitet – denn in welcher Gesellschaft bedrängt eine Frau einen Mann, sodass dieser verängstigt aus dem Raum flüchtet? In welcher Gesellschaft müssen Männer Angst davor haben, im Dunkeln allein durch den Park zu laufen und von einer Gruppe Frauen überfallen und misshandelt zu werden? Die Schilderungen wirken radikal, weil es uns undenkbar erscheint, diese vertauschten Rollen zu erfahren.   

Was aber passiert, wenn Frauen zurückschlagen und Raum einnehmen? Wenn eine Frau nicht alle Sorgearbeit übernimmt, die Kinder an den Vater abgibt und Freiraum für sich beansprucht? Mareike Fallwickl begibt sich in ihrem Roman in ein fiktives Gedankenspiel. Sie vereint weibliche Selbstermächtigung und Emanzipation vor dem Hintergrund der Verlusterfahrung eines zentralen Menschen und dem tiefen Gefühl von Trauer. Es werden Frauen gezeigt, die  in unserer Gesellschaft oftmals klar zugeschriebenen Rollenverteilungen aufbrechen, sich auflehnen und ausbrechen – laut sind.

Die Wut, die bleibt ist ein Roman, der enorme Schlagkraft besitzt. Der von notwendiger Veränderung, einem Wunsch nach Gleichstellung und von einem tiefen Drang nach Gerechtigkeit spricht. Der zwingt, hinzuschauen und bestehende Missstände nicht zu verklären. Er bricht mit dem Tabu der weiblichen Wut, indem er diese klar benennt. Die Geschichte ist intensiv, herausfordernd und emotional; sie trifft sowohl sprachlich als auch inhaltlich tief.

Am Ende des Romans stellt sich die Frage: Wie viel Sarah und Lola stecken wohl in uns?

Fallwickl, Mareike (2022): Die Wut, die bleibt. Hamburg: Rowohlt Verlag.