von Hanna Gärtner

„Anfangs fängt man an ein Exposé zu schreiben. Man klärt für sich selbst, wie man seine Geschichte erzählen will, eine Art Treatment. Wir als Schriftsteller sind Postboten. Sowohl für ein Buch als auch für das Schreiben und Lesen eines Briefes muss Zeit gefunden werden. Dieser Akt ist eine Zuwendung an einen Menschen.“

So beschreibt Moritz Rinke sein Selbstverständnis als Romanautor. Das erste Mal nach langer pandemiebedingter Pause fand am 19.05.2022 wieder eine Veranstaltung im Zeitschriftenlesesaal der Universitätsbibliothek Gießen (UB) gemeinsam mit dem Literarischen Zentrum (LZG) und dem Institut für Germanistik statt. Dort las Rinke aus seinem neuen Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García.“ In einem Werkstattgespräch wurde gemeinsam mit Moderator Prof. Kai Bremer von der Universität Osnabrück über die Zusammenarbeit von Autor*in und Lektor*in diskutiert.

Im Fall von Moritz Rinke und seiner Lektorin Sandra Heinrici begann das erste Gespräch über den damaligen Roman mit dem späteren Titel „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ auf dem Kölner Weihnachtsmarkt nach drei Glühwein und zwei weiteren Flaschen Sekt. Innerhalb von 48 Stunden war die bisherige Ideenentwicklung wie in einem „Rausch“ durchgearbeitet.

Nun wurde sein zweiter Roman im Kiepenheuer & Witsch Verlag veröffentlicht, diesmal in Zusammenarbeit mit Sandra Heinrici und Mona Leitner. Rinke betont: Ohne seine Lektorinnen wäre der Roman nicht in dieser Form erschienen. Plotlöcher, Zeitsprünge und Logikfehler werden durch gemeinsames Arbeiten aufgespürt. Doch der Erzählstil des jeweiligen Autors ist es, der eine Geschichte oder den Roman einzigartig macht. Dieser sollte bewahrt und nicht vom Lektorat ausgemerzt werden. Besonders die Art des Erzählens sei zu schützen, denn sie ist die Sprache des Autors. Grundsätzlich ist Rinke vor allem „der gemeinsame Blick auf Figuren, die Liebe zum Leben und der Charakter des Menschen“ wichtig.

Aber auch die Zusammenarbeit mit seiner zweiten Lektorin Mona Leitner empfand Rinke als gelungen. Mit seinen starken Figurenzeichnungen und dialogischen Rhetorik „rannte“ er bei Leitner, die angewandte Kulturwissenschaften in Hildesheim studiert und zunächst am Theater gearbeitet hatte, „offene Türen“ ein.

Damit unterscheiden sich Heinrici und Leitner durchaus von ihren Kolleg*innen, denn ein gleichberechtigter und intensiver Austausch sei keineswegs selbstverständlich. Rinke kritisiert autoritäres Auftreten von Lektor*innen. Diese möchten oft genug „den eigenen Stil aufdrängen“ und „formen letztendlich den Roman um. Ein großer Lektor ist der, der von sich abstrahieren kann. Ähnlich wie ein guter Kritiker, der nicht sofort seinen Geschmack über das Werk legt, sondern zunächst beschreibt, was da ist und dieses anerkennen kann, obwohl es möglicherweise nicht seinen Kriterien entspricht.“

Totengräber im Schreibvorgang

Auf die Frage Bremers, wie genau die Absprache in Bezug auf die Handlungsentwicklung während des Schreibens verlaufe, antwortet Rinke: „Die Tonart des Romans ist grundsätzlich bekannt, es erfolgt jedoch kein Gespräch über die genaue Handlungsmelodie. Je mehr man drüber redet, desto weniger fängt man an zu schreiben.“ Jeder Roman sei ein Neuanfang. “Das Programm entfaltet sich durch das Streiten über das Detail sowie der Nähe zu den Figuren.“

Eine alternative (Welt)geschichte

Der Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ erzählt von Vätern und Söhnen, Lavafrauen und von dem Postboten Pedro, der in seinem kleinen Postbüro in Yaiza auf Lanzarote seit Erfindung des Internets keine Briefe, sondern nur noch Werbesendungen sortiert. So hat er unendlich viel Zeit, um am Hafen Café con Leche zu trinken, seinem Sohn Miguel alles über historische Vulkanausbrüche zu erzählen und den Geheimnissen seiner Familie auf den Grund zu gehen. Und dann sitzt da auf einmal ein Mann in seiner Küche: Amado, ein Flüchtling, der auf Lanzarote die Freiheit gesucht und ein Gefängnis vorgefunden hat. Der afrikanische Literaturdozent, der weite Wege über die Sahara zurücklegte und sich lange in einem Flüchtlingscamp in Marokko aufhielt, bis er schließlich auf den Kanaren landete, tritt erst in der zweiten Hälfte des Romans auf. Eigentlich war er das Zentrum von Rinkes ursprünglicher Geschichte. Diese recherchierte er 2014. Dann kamen der Syrienkrieg sowie die Flüchtlingsbewegung und er hatte das Gefühl, von der Tagespolitik überrannt zu werden. Die Ereignisse hinderten ihn daran, Amado weiter ins Zentrum zu stellen. Auch um der Gefahr zu entgehen, Themen aufzugreifen und Stoff bloß für eigene Zwecke zu nutzen.

„Die Literatur ist im Moment leider sehr monothematisch gefasst, geprägt von Diskursbüchern, die vom Zeitgeist gefeatured werden.“ Heinrici warnte im Zuge der Entwicklung in Syrien davor, dass wenn die Flüchtlingsfigur Amado zu stark werde, diese mit der Welt Pedros kollidieren könnte und so zwei Bücher entstünden.

Was jedoch bestehen bleibt, ist der Schauplatz des Romans. Umschlossen vom Atlantik und geopolitisch der erste Fluchtpunkt vor Afrika, dient Lanzarote als Bühne. Ein Ort, der begrenzt ist, jedoch viel Welt birgt.

Die Inspirationen für das Drama kamen durch Rinkes eigene Beobachtungen wie von selbst: Bei seinen Aufenthalten auf der Insel war für ihn unübersehbar: Die touristische Welt konkurriert mit der Realität. Morgens werden Flüchtlingsbote zertrümmert und auf einen Bootsfriedhof gebracht, während die Besucher*innen bequem mit dem Flugzeug die marokkanische Küste überfliegen, die durch ihre starke Strömung viele Fliehende in den Tod zieht. Die Emotionalität und Ungerechtigkeit, wenn Hoffende direkt vor der Grenze Europas scheitern, während andere in Hotelwelten leben, spiegelt sich ebenfalls in Rinkes Roman wieder.

Aber auch die Tatsache, dass sich die Briefträger Lanzarotes ihre wenige Post irrsinnig in kleine Portionen einteilen wie Nahrung, verpflichtende Benzincoupons einlösen und sich ihre Zeit an Bars vertreiben, greift Moritz Rinke auf. Dabei waren sie früher im wahrsten Sinne des Wortes Boten: Sie überbrachten nicht nur Nachrichten, sondern lasen auch den häufig Leseunkundigen vor. Und sie waren die ersten Ansprechpartner. Rinke berichtet also von ehemaligen Postboten als Lektoren und als Tore zur Welt. – Jetzt bedroht durch die Digitalisierung.

Schriftsteller als Postboten

„Wir als Schriftsteller sind auch eine Art Postbote.“ Für ihn ist Schreiben auch ein Akt der Zuwendung.

So schließt Rinke das Werkstattgespräch und appelliert dabei an die Bedeutung der Handschrift: Dies wird auch in seinem Vorlass und auch einer kleinen Ausstellung seiner Dokumente während der Lesung deutlich. Es ist Bremers Initiative zu verdanken, dass der Autor vor sieben Jahren seine Dokumente der UB übergab. Der Vorlass umfasst unter anderem handschriftliche Materialien zu Rinkes Theaterstücken, Vorarbeiten sowie verschiedene Fassungen seiner Werke, Notizbücher und kommentierte Zeitungsartikel. Genügend Stoff für weitere Gespräche zu den Geschichten hinter seinen Romanen, Artikeln und Theaterstücken.