Von Büsra Barut
Wie kommt die aktuelle Abitur-Schullektüre zustande und welche Probleme sind mit diesem Auswahlprozess verbunden? Dazu fand unter dem Titel „Faktische Kraft des Normativen oder normative Kraft des Brauchtums?“ am 10. Juli 2025 im Seminargebäude Rathenaustraße 10 eine gemeinsame Veranstaltung des Instituts für Germanistik der JLU Gießen und des Zentrums für Lehrerbildung statt. Im Mittelpunkt stand ein Vortrag von Dr. Torsten Mergen, Gymnasiallehrer und Landesfachberater für Deutsch im Saarland. Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Sascha Feuchert. Ziel war es, aktuelle Entwicklungen im schulischen Literaturkanon vor dem Hintergrund der KMK (Kulturministerkonferenz) – Vereinbarung von 2020 zu beleuchten und deren bildungspolitische sowie didaktische Folgen zu diskutieren.
Prüfungslogik statt Bildungsauftrag
Zentrales Thema des Vortrags war die zunehmende Standardisierung der Abiturprüfungen und deren Einfluss auf den Literaturunterricht. Mergen kritisierte, dass literarische Werke zunehmend nach ihrer Prüfungstauglichkeit statt nach ästhetischem oder kulturellem Wert ausgewählt würden. Klassische Texte wie Goethes „Faust I“, Schillers „Kabale und Liebe“ oder Lessings „Nathan der Weise“ weichen zunehmend modernen Werken wie Juli Zehs „Corpus Delicti“, Charlotte Gneuß‘ „Gittersee“ oder Jenny Erpenbecks „Heimsuchung“. Diese Entwicklung reflektiert eine veränderte Zielsetzung schulischer Lektüreauswahl: Nicht mehr der literarische Eigenwert eines Textes steht im Vordergrund, sondern seine Eignung zur Kompetenzmessung. So betont Mergen: „Texte sollen sich eignen, um Kompetenzen zu erwerben. Texte sollen sich nicht eignen, um die Texte als Gegenstand kennenzulernen. Eine zentrale Ursache sei die Vereinbarung der KMK, die seit 2023 vorschreibt, dass mindestens 50 % der Abituraufgaben aus einem zentralen Pool stammen müsse. Wer diese Texte nicht behandelt, gefährdet die Prüfungsvorbereitung. Es entstehe ein „funktionaler Kurzzeitkanon für drei Jahre“, erläutert Mergen, der danach seine Bedeutung sofort verliere.
Diese Entwicklung hat tiefgreifende Folgen für die Rolle der Lehrkräfte. Pädagogische Entscheidungsspielräume schrumpfen; Inhalte und Texte werden zunehmend extern festgelegt. Lehrkräfte würden dadurch weniger als selbstständige Bildungsakteure, sondern vielmehr als Ausführende eines vorgegebenen Systems wahrgenommen. Zwar böten zentrale Aufgaben gewisse Planungssicherheit, doch gehe dies auf Kosten individueller didaktischer Gestaltung.
Pflichtlektüre ohne Wirkung? – Wie der Kanon seine LeserInnen verliert
In der anschließenden Diskussion wurde vor allem die Verengung des Kanons kritisiert. Feuchert warnte vor einer „gezüchteten Ablehnungskultur“, die entstehe, wenn SchülerInnen gezwungen seien, sich nur mit zwei Pflichtlektüren auseinanderzusetzen. Statt literarisches Interesse zu wecken, fördere dies Ablehnung und Desinteresse. Auch Studierende äußerten sich besorgt. Eine Studentin stellte infrage, ob die Hochschule künftig das ersetzen müsse, was die Schule nicht mehr leiste. Mergen bestätigte: „Alle Abiturientinnen und Abiturienten, die in Deutschland Abitur machen, sind eigentlich fit in Literatur ab 1900, aber haben nur rudimentäre Kenntnisse von Literatur um 1800“, ein deutlicher Hinweis auf den Wandel des schulischen Kanons.
Mehrere Stimmen in der Diskussion wiesen auf eine bedenkliche Fragmentierung literarischer Bildung hin. Der enge Fokus auf prüfungsrelevante Einzelwerke führe laut Feuchert zu einem „Inselwissen“, das weder historische Einordnung noch epochalen Überblick ermögliche. Ein echtes literarisches Verständnis lasse sich auf dieser Grundlage kaum entwickeln. Ein Teilnehmer sprach von einem „Kanon von oben“, der nicht durch pädagogische Aushandlung, sondern durch Verwaltung entstehe. Mergen zeigte Verständnis für diese Kritik, hob jedoch auch hervor, dass moderne Texte wie „Gittersee“ Potenzial zur literarischen Bildung böten – sofern sie nicht bloß funktionalisiert würden.
Zwischen Anpassung und Bildungsanspruch
Die Veranstaltung verdeutlichte, dass die aktuelle Kanon-Debatte zentrale Fragen nach Steuerung, Prüfung und pädagogischer Verantwortung aufwirft. Dr. Mergen beschrieb die Realität des Deutschunterrichts im Zeichen standardisierter Prüfungen und zentraler Textvorgaben präzise und differenziert. Seine Position ist ambivalent, aber deutlich: Er erkennt die Notwendigkeit gemeinsamer Standards und schätzt die Vorteile klarer Strukturen, warnt jedoch zugleich vor einem Verlust literarischer Tiefe, ästhetischer Erfahrung und pädagogischer Eigenverantwortung. In seinen Ausführungen wird klar: Nicht die Vereinheitlichung an sich ist das Problem, sondern deren zu enge Auslegung. „Ich habe durchaus die Möglichkeit, diesen Kanon aufzubrechen“, erklärt Mergen mit Blick auf die didaktische Praxis. Lehrkräfte müssten die verbleibenden Gestaltungsspielräume aktiv nutzen, um Literatur im Unterricht lebendig zu halten. Der neue Kanon müsse kein starres Korsett sein – sondern könne, bei kluger und mutiger Umsetzung, auch eine Chance für eine zeitgemäße literarische Bildung darstellen.