Von Büsra Barut

Es ist kurz vor acht Uhr. Die Magnettafel im Flur des C-Gebäudes füllt sich mit bunten Punkten. Punkten, an denen jeweils der Name eines Kindes angepinnt ist. So ist auf den ersten Blick zu sehen, für welche Fächer sich die Kinder eingeloggt haben. Danach strömen sie in die großen Lernbüros. Links arbeiten die 5. Klassen, rechts die 6. Klassen in hellen Räumen, die aus jeweils zwei Klassenzimmern entstanden sind. Jede Schülerin und jeder Schüler verfügt über einen eigenen Doppeltisch: Eine Hälfte dient als Arbeitsfläche, die andere zur Ablage von Materialien. In einer Holzkiste lagern sie ihre persönlichen Lernunterlagen, darüber steht eine individuell gestaltete Kiste, die ebenfalls mit Material oder kleinen persönlichen Gegenständen befüllt ist. Manche Schüler*innen haben auch private Fotos angebracht. Zwischen den Tischen stehen selbstgestaltete Sichtschutzpaneele mit Stundenplänen, Magneten und Post-its – auf diesen formulieren die Schüler*innen ihre individuellen Lernziele, ein Motto oder ein Motivationsspruch. Neben jedem Arbeitsplatz steht ein farblich markierter Holzklotz: Grün bedeutet organisatorische Fragen, Rot zeigt an, dass Unterstützung bei einer Aufgabe benötigt wird. In dieser strukturierten und zugleich persönlich geprägten Lernumgebung beginnt der offene Anfang, eine ruhige Phase zwischen 7.45 und 8.00 Uhr zur Orientierung und Vorbereitung. Was die Schüler*innen dort erwartet, folgt einem klaren pädagogischen Konzept: dem Lernbüro.

Das Lernbüro an der Friedrich-Ebert-Schule Gießen sei ein „ambitioniertes Konzept“, so Frau G., es solle „individualisiertes, selbstgesteuertes Lernen fördern“. Nach Auffassung des Hessischen Kultusministeriums (HKM) ein „auf Vorwissen basierender, konstruktiver, aktiver, situativer und selbstgesteuerter Prozess, der individuell verläuft“. Die Schüler*innen der Jahrgänge 5 und 6 arbeiten in Deutsch und Mathematik an sogenannten Meilensteinen auf drei Niveaustufen (M1–M3), die grundlegende, mittlere und gymnasiale Anforderungen abbilden. Die klassische Prüfung ist abgeschafft: Stattdessen gibt es „Beweise“, ein- bis zweiseitige Lernkontrollen, die bis zu dreimal geschrieben werden dürfen. Neben drei Lernbürostunden pro Tag erhalten die Schüler*innen auch regulären Unterricht in Deutsch und Mathematik. Dazu stehen im Stockwerk unter dem Lernbüro jeweils ein Fachraum für Mathematik, einer für Deutsch sowie ein separater Beweisraum zur Verfügung. Die Schüler*innen melden sich mit ihren Magneten dorthin um, wenn sie zusätzliche Erklärungen in Mathematik oder Deutsch durch eine Lehrkraft benötigen oder einen Beweis schreiben möchten. Diese Räume sind durch Fachlehrkräfte betreut und ergänzen die Lernbüroarbeit gezielt.

Das Konzept wurde nach einem Besuch der Erich-Kästner-Schule in Darmstadt 2022 eingeführt. Die Idee: mehr Eigenverantwortung, individuelles Lerntempo und passgenaue Förderung. Projekte wie SIQUA oder SVplus zeigen, dass selbstorganisierte Lernformen – wie sie im Lernbüro umgesetzt werden – bereits 2007 und 2008 in Hessen systematisch erprobt wurden. Laut HKM verweisen die Evaluationen auf eine hohe Zustimmung und geben deutliche Impulse, insbesondere an beruflichen Schulen, für die Weiterentwicklung von Unterricht. Doch wie gut gelingt die Umsetzung an der Friedrich-Ebert-Schule?

Frau G., Lehrerin im 5. Jahrgang, lobt: „Das Konzept ist durchlässig. Wenn jemand in Mathe besser ist als in Deutsch, kann er auf M3 gehen, ohne überall auf dem gleichen Niveau zu arbeiten.“ Auch Schüler*innen berichten von Erfolgserlebnissen. Ein Fünftklässler sagt stolz: „Ich bin schon sehr weit – bei Deutsch bei s-Lauten, bei Mathe bei Brüchen.“ Er bearbeitet Inhalte, die von den Lehrkräften erst für eine spätere Woche vorgesehen sind. Die Meilensteine wurden von den Lehrkräften vorbereitet und decken alle Inhalte ab, die der Lehrplan für die Jahrgänge 5 und 6 fordert. Die Lehrkräfte legen fest, wie lange an einem Thema gearbeitet werden soll. „Sehr weit“ bedeutet also, den geplanten Ablauf überholt zu haben und sich schon früher mit später vorgesehenen Themen zu beschäftigen.

Doch das Lernbüro bringt nicht nur Vorteile. Frau B., Lehrerin im 6. Jahrgang, schildert ihre Frustration: „Ich bin im Lernbüro eigentlich nur noch am Schimpfen. Für unser Klientel ist das einfach nichts – die Eigenverantwortung ist zu hoch.“ Gemeint sind vor allem Kinder mit sprachlichen Barrieren oder ohne elterliche Unterstützung, die ohne klare Strukturen Schwierigkeiten haben. Sie berichtet: „Die stellen sofort den Klotz hoch, ohne die Aufgabenstellung gelesen zu haben. Dann lege ich den Finger ins Material, blättere zurück und sage: Lies das hier noch einmal.“ Besonders problematisch sind aus ihrer Sicht die “Beweise“: „Ich bespreche einen Beweis mit einer Schülerin und danach schreibt sie trotzdem eine 6+.“ Das zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sein kann. Schüler*innen sehen die Beweise oft als „ein Arbeitsblatt“ – ein Hinweis darauf, dass sie den Ernst der Leistungsüberprüfung nicht immer erfassen. Die Möglichkeit, Beweise mehrfach zu schreiben, führt laut Frau B. dazu, „dass sie immer wieder schreiben, bis sie irgendwie durchkommen“. Das macht die Korrektur mühsam und raubt Zeit.

Auch die Lernumgebung wird unterschiedlich bewertet: Während manche Schüler*innen die Ruhe schätzen, wünschen sich andere mehr Austausch und flexible Sitzordnungen. Ein Schüler merkt an: „Ich würde es besser finden, wenn wir Gruppentische mit eigenen Plätzen hätten.“

Das Lernbüro bietet Freiräume und Chancen, aber auch Überforderung. Besonders leistungsstärkere und strukturierte Schüler*iInnen profitieren. Andere verlieren sich in der Freiheit. Selbstständigkeit braucht nicht nur Freiräume, sondern klare Grenzen und Begleitung. Ob das Lernbüro tatsächlich den Bedürfnissen der Schüler*innen entspricht oder primär einem pädagogischen Ideal folgt, bleibt fraglich.