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Von Lisa Maria Lauckhardt

„Ich habe mich richtig gefreut, als ich gewonnen habe!“, berichtet Helen aus der Klasse 4b und meint damit den Vorlesewettbewerb, der am Freitag, 13. Juni, in der Goetheschule in Gießen stattfand. In der Aula wurden bei einer feierlichen Siegerehrung die besten Vorleserinnen und Vorleser der Schule ausgezeichnet. Mit klarer Betonung las sie aus ihrem Lieblingsbuch „Ostwind“ vor und überzeugte damit nicht nur die Jury, sondern auch die gesamte Schulgemeinschaft. Musikalische Beiträge der Klassen 4a und 4b umrahmten die Veranstaltung. Als beste Leserin der Jahrgangsstufen 1 und 2 setzte sich Theresa aus der Klasse 2b durch. Alle Kinder, die am Finale teilnahmen, erhielten als Anerkennung ein Buchgeschenk. 

Vorlesewettbewerbe haben bundesweit eine lange Tradition und werden seit 1959 vom Börsenverein des deutschen Buchhandels von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung jährlich durchgeführt. Im Mittelpunkt stehen Lesefreude, Motivation und die persönliche Auseinandersetzung mit Literatur. Auch wenn der Vorlesewettbewerb an der Goetheschule schulintern stattfand, orientierte er sich in Zielsetzung und Ablauf am bundesweiten Vorbild: Kinder entdecken Geschichten, lernen vor Publikum aufzutreten und gewinnen an Selbstbewusstsein. Ganz nach dem Motto: „Wer vorliest, gewinnt immer“ – , ein Leitspruch des bundesweiten Vorlesewettbewerbs. „Wir merken, dass zuhause immer weniger gelesen wird. Der Vorlesewettbewerb gibt vielen Kindern die Chance, überhaupt einmal zu entdecken, wie viel Freude Lesen machen kann“, erklärte Frau S., Lehrerin und Jurymitglied. „Solche Erfahrungen sind wichtig, denn Lesekompetenz ist eine Grundlage, die früh gelegt werden muss.“ Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen PISA-Studie erhält diese Veranstaltung besondere Bedeutung: Die Erhebung von 2022 zeigt, dass die Lesekompetenz deutscher Schüler*innen im internationalen Vergleich erneut deutlich gesunken ist. Rund ein Viertel der 15-Jährigen erreicht nicht einmal das grundlegende Niveau im Lesen. Frühe Leseförderung wie an der Goetheschule ist daher wichtiger denn je.

Das große Finale hatte bereits am Montag, den 10. Juni, in der Schulbücherei stattgefunden. Der Weg dorthin nahm im Schulalltag viel Raum ein. Zwei Kinder pro Lerngruppe hatten sich zuvor in interner Vorentscheidung durchgesetzt. Über zwei Wochen hinweg trugen täglich jeweils zwei Schüler*innen eine kurze Textpassage aus ihrem Lieblingsbuch vor. „Es war ganz still, alle haben mich angeschaut, als ich vorgelesen habe“, so Leni über die Atmosphäre. Im Anschluss erfolgte die Abstimmung durch eine geheime Abfrage: Die Kinder konnten ein bis drei Punkte vergeben. „Ich war froh, dass ich nicht gewonnen habe“, gestand Leni aus der 3a. „Ich bin beim Vorlesen immer so nervös.“ Ihre Mitschüler*innen Kira und Makbel vertraten die Klasse im Finale, begleitet von Augusta und Mika, die sie unterstützten. Jedes Gewinnerkind durfte nämlich eine Begleitperson mit in die Bücherei bringen. Nicht nur zur mentalen Unterstützung, sondern auch als mögliche Vertretung im Krankheitsfall. „Ich finde es toll, dass ich da nicht alleine hin muss“, meinte Kira. „Da drei Lehrerinnen in der Jury sitzen, kann das schnell überfordernd werden. Deshalb war es uns wichtig, dass jedes Kind jemanden Vertrautes an seiner Seite hat“, erklärte Frau T., stellvertretende Schulleiterin. Diese Möglichkeit sorge nicht nur für Sicherheit, sondern stärke auch das Gemeinschaftsgefühl. „Alle waren aufgeregt, aber auch stolz“, berichtete Augusta, die ihre Freundin begleitete. „Es war cool, dass ich mitgehen durfte.“

Beim Endspurt wurde es ernst: Die Finalist*innen lasen zunächst aus ihrem selbst gewählten Buch. Ob „Die drei ???“, „Der Fluch des Phönix“ oder „Jim ist mies drauf“, die Auswahl war vielfältig und sehr persönlich. „Das Buch ist richtig cool“, schwärmte Nora, die aus „Der Fluch des Phönix“ las und damit den zweiten Platz erreichte. Im Anschluss mussten alle Kinder einen unbekannten Text vorlesen. Diese wurden passend zu den unterschiedlichen Lesestufen der Kinder ausgewählt. Die Jury entschied anhand der Kriterien wie Lautstärke, Lesefluss, Betonung und Artikulation. „Wir haben den selbstausgewählten Text und den Fremdtext einzeln bewertet und danach die Punkte zusammengezählt“, so Frau V.

Und dann hieß es drei Tage zittern und gespannt auf die große Siegerehrung warten. „Es war aufregend und cool“, sagte Nora im Anschluss. „Ich war ein bisschen traurig, dass ich nicht gewonnen habe, aber ich freue mich für Helen, denn sie ist meine Freundin.“ Für viele Kinder war dieses Ereignis mehr als nur ein schulischer Wettbewerb, es war eine persönliche Herausforderung und zugleich eine motivierende Erfahrung. Neben der Leseförderung rückte auch die Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt. „Wir wollen die Freude am Lesen wecken und stärken“, betonte Frau St. „Aber es geht auch darum, Mut zu zeigen, selbstbewusst aufzutreten und sich etwas zuzutrauen.“ Kollegin Frau V. ergänzte: „Viele Kinder wachsen über sich hinaus. Manche sagen vorher: „‚Ich kann das nicht‘ – und dann stehen sie vorne und lesen wunderbar.“

Am Ende war klar: Auch wenn nicht alle auf dem Siegertreppchen standen – Gewinner*innen waren sie alle. Kinder, die sich trauten, laut vorzulesen. Kinder, die sich gegenseitig Mut machten. Und eine ganze Schule, die das Lesen gefeiert hat.