Von Benita Stein
„Wer überliefert, der muss auch nicht überliefern.“ – So fasst Dr. Mirko Nottscheid, Leiter der Abteilung Bilder und Objekte des Deutsches Literaturarchivs Marbach (DLA), die Aufgabe eines Archivars zusammen. Manuskripte Rilkes von seinem Zyklus Gedichte an die Nacht werden im Museum ausgestellt, der Konzertflügel von Rio Reiser aber wurde abgelehnt. Einfach sind diese Entscheidungen nicht, doch die Mitarbeitenden im DLA müssen abwägen, ob sie etwas in die Sammlung aufnehmen oder nicht und somit riskieren, dass es in Vergessenheit gerät.
An drei Tagen im Dezember besuchte eine Gruppe aus acht Studierenden des Seminars von Dr. Norman Ächtler das DLA, um sich mit Archivmaterialien aus den Autorennachlässen vor Ort auseinanderzusetzen. Thema der Veranstaltung im Wintersemester 2024/25 war anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums das Hörspiel. In einem umfangreichen Programm aus Führungen und Gruppenarbeitsphasen gab es bei dieser Exkursion viel zu lernen.
Laut der Website beschäftigt das 1955 gegründete DLA rund 260 Mitarbeitende und umfasst Archiv, Bibliothek und zwei Museen. Insgesamt gibt das Gesamtpanorama ein interessantes Bild ab: Der 1950er-Jahre-Bau findet sich neben dem 1903 eröffneten prunkvollen Schiller Nationalmuseum (SNM) sowie dem 2006 eröffneten und mit Säulen gestalteten Literaturmuseum der Moderne (LiMo). In der Mitte der Parkanlage Schillerhöhe gegenüber des SNMs ergänzt ein Schiller-Denkmal, dessen Grundstein 1859 zum 100. Geburtstag Schillers gelegt wurde, das Ensemble. Im Archiv-Gebäude sind die Materialien auf verschiedene Etagen verteilt: Die Präsenzbibliothek befindet sich im Erdgeschoss, für die Arbeit mit den Handschriften geht es in die unterirdischen Geschosse.
Im Gespräch mit der Leiterin des DLA, Prof. Dr. Sandra Richter, erinnert sich die Gießener Alumna an ihre Zeit in der Stadt. Diese war geprägt durch ihre Promotion über reformierte Morallehren und die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Hierzu habe sie sich viel mit der Geschichte der Hugenotten beschäftigt. „Damals in Gießen habe ich schon sehr oft und viel mit Quellen aus unterschiedlichen Archiven gearbeitet, und das auch sehr begeistert“, erläutert sie ihr Interesse. Schon früh in ihrer Zeit an der Jacob-Grimm-Schule in Kassel habe sich ihre Verbindung zu Quellen gezeigt, als einer ihrer Lehrer einen Besuch ins Archiv der deutschen Frauenbewegung organisierte und sie dadurch inspiriert habe. Sie habe schon früh die Nähe zur Literatur gesucht. Diese Nähe zur Literatur kann sie nun auch beruflich ausüben. Aktuell zeigt sich dies in einer Ausstellung zu Kafka – ab Ende des Jahres soll aber eine große Ausstellung zu Rilke folgen, über den sie kürzlich eine Biografie verfasst hat.
Richter ist jedoch nicht die einzige Gießener Alumna in Marbach: Auch Dr. Nikola Herweg, Referentin für die Erschließung und die Betreuung der Bestände der zwischen 1881 und 1920 geborenen Autor/-innen, hat an der Justus-Liebig-Universität studiert – und das „sehr gern“, wie sie betont. „Ich habe quasi überall reingeschnuppert und fand toll, wie vielseitig es war. Ich war während meines Studiums viel im Ausland und habe schöne Exkursionen mitgemacht“, erinnert Herweg sich. „Und ich mochte Gießen – es hatte eine sehr coole, interessante Subkulturszene. Damals habe ich zum Beispiel in der Literaturzeitschrift Shanghai Opera mitgemischt“, resümiert sie über ihr Leben an der Lahn. Schon in ihrer Magisterarbeit zur „nicht ganz unproblematischen“ Laubacher Autorin Editha Klipstein, deren Nachlass im DLA liegt, habe sich ihr Interesse für Archivarbeit und die Nuancen zwischen der schwarz-weiß Betrachtung von Autor/-innen des 19. und 20. Jahrhunderts gezeigt. Als Mitarbeiterin des DLA Marbach habe sie dies mit Arbeiten beispielsweise zum NS-Mitläufer Felix Hartlaub, der im Dritten Reich Karriere machte und währenddessen literarisch tätig war, weiter vertiefen können.
Auch heute noch sind die Wege der Mitarbeitenden des DLAs mit Universitäten verknüpft, denn viele von ihnen lehren neben ihren Tätigkeiten im Archiv an Hochschulen, wie etwa Sandra Richter in Stuttgart. „Natürlich haben wir immer ein Auge auf vielversprechende Talente. Auf der einen Seite haben wir reichlich Material zu bieten und auf der anderen Seite freuen wir uns natürlich über kluge, tätige, witzige Geister, die bei uns mitmachen“, erklärt sie.
Durch die Führungen sowohl im Archiv als auch im LiMo wurden die Bestände des Hauses eindrücklich zur Geltung gebracht. Zu entdecken gibt es beispielsweise die erste Seite von Kafkas Manuskripts zu Der Prozess oder Erich Kästners Manuskript zu Emil und die Detektive in der heute nicht mehr gebräuchlichen Stenoschrift ›Gabelsberger‹, aber auch Arbeitsmaterialien vieler Autor/-innen warten auf wissbegierige Besuchende.
Doch zurück zu Ächtlers Seminar und dessen Fokus auf das Hörspiel: Die Studierenden erhielten Einblicke in die Bestände Ernst Schabels zu seinem NDR-Hörspiel Anne Frank. Spur eines Kindes sowie zu Ror Wolfs Hörspiel Cordoba Juni 13.45 Uhr. Anhand schriftlicher Entwürfe und weiterer Dokumenten konnten die einzelnen Schritte des Schaffensprozesses nachvollzogen werden, da beide ihre Bearbeitungsstufen unter anderem in Notizbüchern sehr genau dokumentierten. So ließ sich ein Einblick in die Schriftsteller-Werkstatt erhaschen.
Im Archiv findet sich zwar alles Geschriebene der Autor/-innen, aber es geht noch weit darüber hinaus: „Wir sammeln Handschriften, Bilder und Objekte, aber auch zum Beispiel Hörspiele und Comics. Man muss sich nur entscheiden, inwiefern ein Objekt narrativen Charakter hat“, erläutert Dr. Madeleine Brook, die stellvertretende Leiterin des Forschungsreferats. Denn die Aufgabe des DLAs ist es, Literatur seit 1750 bis in die Gegenwart in ihrem weitesten Sinne zu dokumentieren. Deshalb gibt es noch weitere Abteilungen, wie Bilder und Objekte oder die Mediendokumentation, die festhält „inwiefern die deutsche Literatur ihre Spuren in den Medien hinterlässt“, wie Referent Andreas Kozlik bei einer Führung beschreibt. Hier habe man es mit einem ständigen Wandel zu tun, denn gesammelt wird von Schallplatten über Adaptionen im Hörfunk, Fernsehen und Videospielen bis hin zu neueren Phänomenen wie den ausschließlich online veröffentlichten Fan Fictions. Der Sammlungsauftrag werde behutsam ausgeweitet – der Fokus bleibe zwar auf geschriebener Literatur, doch es gebe auch diese Spezialsammlungen.
Trotz dieses weiten Sammelauftrags werden nicht alle Stück aufgenommen. Man müsse immer abwägen, was man mit dem Objekt wirklich machen kann und inwiefern es nach Marbach passt. Nottscheid schildert zwei solcher Fälle: Ein Mantel des DDR-Autors Hermann Kant sei bereits in seiner Abteilung, da er sich aber gegen die Aufbewahrung entschieden habe, sei er nun in der Pflicht, zur Rückgabe die Erben zu suchen. Und auch der Konzertflügel von Rio Reiser passe nicht so richtig nach Marbach – er nehme viel Platz weg, benötige Pflege und man könne ihn nicht so häufig präsentieren. Also habe Nottscheid ihn ablehnen müssen.
In Marbach wurde gezeigt, dass Archive doch nicht so „staubig“ sind, wie manche denken mögen, sondern sehr vielfältig. Sie sind Orte, deren Material teilweise Jahrhunderte alt ist, doch sie selbst sind stetig im Wandel und versuchen, mit der Zeit zu gehen. Es gibt viel zu entdecken, auch wenn man vor dem ersten Besuch vielleicht etwas zögerlich ist. „Traut euch!“, gibt Nikola Herweg als abschließenden Appell mit. „Die Leute hier helfen gern, wenn sie gefragt werden, und freuen sich, wenn sie ihre Kenntnisse an die Frau oder an den Mann bringen können.“