Von Jonas Hinkel
„Guten Tag, Herr Maier“ – eigentlich eine einfache Begrüßung, doch sie findet in einem ungewöhnlichen Rahmen statt: Sie gilt einem „Interaktiven Zeitzeugnis“. Die Besucher*innen befinden sich in einem leicht abgedunkelten Raum in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt. Eröffnet und moderiert wird das Gespräch von Mitarbeiter*innen des Deutschen Exilarchivs 1933-1945. Auf einem lebensgroßen Bildschirm ist der Kurt S. Maier zu sehen. Freundlich lächelnd sitzt er in einem Sessel vor schwarzem Hintergrund. Der gebürtige Kippenheimer ist einer der letzten verbliebenen Zeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Doch nicht er selbst ist anwesend, sondern eine digitale Fassung. Anders als beim Lesen von Texten oder Abrufen von Videos, kann so eine Interaktion stattfinden.
Nach der Begrüßung haben die Besucher*innen die Möglichkeit, Fragen zu stellen: Eine Person steht auf, geht nach vorne und spricht ins Mikro, während sie den virtuellen Kurt Maier ansieht. Interessierte wenden sich an Maier und erhalten eine Antwort. Was so einfach klingt ist mit monatelanger Recherche, intensiven Gesprächen und enormen technischen Aufwand verbunden. Dr. Sylvia Asmus, Leiterin des Exilarchivs und ihr Team, reisten dafür im Juli 2021 nach Washington D.C. Eine Woche lang wurde Maier von Asmus befragt: acht Stunden täglich im Aufnahmestudio mit Kameras, umgeben von einen Green Screen. Über 900 Fragen wurden so beantwortet.
„Herr Maier und ich saßen uns 5 Tage lang täglich viele Stunden im Studio gegenüber. Das ist einerseits eine Situation der Nähe und des Vertrauens, aber natürlich ist das auch anstrengend“, so Dr. Asmus. Für Herrn Maier schon allein aus Altersgründen. Zu dem Zeitpunkt des Interviews war er bereits über 90 Jahre alt. Aber auch der Blick in die eigene Vergangenheit konnte für ihn schwierig sein, „weil er in seine Erinnerung zurückgehen musste, was oft ja sehr schmerzhaft ist. Es ist auch anstrengend, sich an Details zu erinnern.“ Die Zeit in Washington stellte aber auch Dr. Asmus vor Herausforderungen. So musste sie viele Stunden lang die Konzentration bewahren können und gleichzeitig auf zahlreiche Dinge achten. „Darauf, dass ich meine Fragen langsam und verständlich in das Mikro spreche, darauf, ob ausreichend Zeit zwischen Frage – Antwort – Frage liegt, die man für den Schnitt braucht. Darauf, ob Herr Maier abschweift oder nicht, ob er zu lange spricht“.
Was aber tun, wenn sich einmal eine Fehlinformation wie ein falsches Datum in Herrn Maiers Antworten einschlich? „Hinter einem Vorhang waren im Studio noch weitere Personen anwesend und noch weitere waren online zugeschaltet. Diese Kolleg*innen haben Herrn Maiers Antworten transkribiert und mit unseren Recherchen abgeglichen“, so Asmus. Kam also mal ein falsches Jahr oder ein falscher Name in Herrn Maiers Aussagen vor, wurde das vom Team bemerkt. In solchen Fällen sprach sie ihn darauf an. Manchmal wurde dann entschieden, die Frage erneut zu stellen. Diese Antworten wurden daraufhin aufgenommen und bilden in Verbindung mit einem Computerprogramm nun das interaktive Zeitzeugnis.
Für dieses Projekt arbeitete man eng mit der USC Shoah Foundation zusammen. Diese Stiftung wurde von Regisseur Steven Spielberg gegründete und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erlebnisse von Holocaustüberlebenden und anderen Opfern der nationalsozialistischen Politik zu bewahren. Im Rahmen des „Programms Dimensions in Testimony“ wurden seit 2014 etwa 60 Überlebende und Zeug*innen des Holocaust, aber auch anderer Genozide interviewt. „Jetzt und noch weit in die Zukunft können Museumsbesucher, Schüler, Studenten und Interessierte Gespräche mit diesen Augenzeugen der Geschichte führen, um von denen zu lernen, die dort waren“, so die Website der USC Shoah Foundation.
Zurück in die Nationalbibliothek: Die Besucher*innen können viel erfahren. Von Kurt Meiers Kindheit und von der jüdischen Gemeinschaft im schwäbischen Kippenheim, von der Deportation nach Südfrankreich im Oktober 1940. Die Familie wurde tagsüber „abgeholt“, also unter den Augen der Nachbarschaft, vom Leben und Überleben im französischen Lager Gurs, dann von der Auswanderung in die USA und dem Leben in New York. Aber auch über seine späteren Verbindungen nach Deutschland und sein heutiges Leben in Washington ist viel zu hören.
Doch auch wenn die virtuelle Version lebendig wirkt und der Eindruck von Unmittelbarkeit entsteht: Mit dem echten Kurt Maier verwechseln sollte man den Interviewpartner trotzdem nicht. „Ich denke, es ist wichtig, genau zu wissen, was man vor sich hat“, so Frau Dr. Asmus. Ein Gespräch mit dem Zeitzeugnis unterscheide sich aus verschiedenen Gründen von einem, das man mit Herrn Maier führen würde: „Weil das Zeitzeugnis nicht zurückfragen kann, es kann seine Aussagen nicht revidieren oder nach einer Diskussion anpassen und es kann nicht auf aktuelle, z.B. politische Ereignisse reagieren.“ Auch das ist ein Grund, weshalb das Gespräch immer von Mitarbeiter*innen begleitet wird. Außerdem kann es immer mal wieder zu Irritationen kommen. Manchmal signalisiert Kurt Maier auch: „Diese Frage habe ich nicht verstanden“ und blickt dabei freundlich-aufmerksam die Besucher*innen an. Dann ist es wichtig, dass eine Person aus dem Team des Exilarchivs andere Formulierungen vorschlägt.
Damit das Zusammenspiel zwischen Fragenden und Zeitzeugnis immer besser aufeinander abgestimmt wird, gab es seit Frühjahr letzten Jahres eine Testphase. Hieran konnten Schulklassen und andere interessierte Gruppen, aber auch Einzelpersonen teilnehmen. Diese Phase ist nun abgeschlossen. In diesem Jahr wurde eine „kontextualisierender Ausstellung“ entwickelt. So besteht die Möglichkeit, dass sich die Besucher*innen vorab über Kurt Maier und dessen Leben informieren können. „Am 7. September werden Ausstellung und digitales Zeitzeugnis eröffnet.“ Dann ist diese besondere Form des Austauschs für alle möglich.