Von Dana Lissmann
Im Seminar „Textproduktion und Schreibforschung“ ist Eigeninitiative gefragt
„Dann bereite ich jetzt die Teilgruppen vor. Ich liege doch richtig mit drei Teams?“ Professorin Katrin Lehnens Augen fliegen über den Bildschirm, vermutlich überprüft sie jedes Video und jede graue Kachel auf ein ‚Nein‘. Kurz wird geklärt, wer zusammenarbeitet, und dann geht es los: Die Kursteilnehmer*innen gehen auf Webex in getrennte Räume. Es ist Zeit, selbst zu forschen.
Denn in dem Masterseminar Textproduktion und Schreibforschung an der Justus-Liebig-Universität (JLU) in Gießen dürfen die Studierenden eigene Projekte entwerfen – und das Schreiben in den Medien untersuchen. Von fiktiven Texten im Netz bis hin zu Kriegstagebüchern sei alles dabei, erklärt Dozentin Lehnen. Sie ist Schreibforscherin an der JLU und geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI).
Aber was ist Schreiben? „Es werden Zeichen aneinandergereiht, um etwas mitzuteilen“, definiert Lehnen diese kulturelle Praktik. Schreiben vollzieht sich keineswegs im stillen Kämmerlein, sondern entsteht nach Darstellung des Sprachwissenschaftlers Gerd Antos Ansätze zur Erforschung der Textproduktion im sozialen Miteinander. In der Studie Orte, Räume, Rituale ergänzen Katrin Lehnen und ihre Kollegin Kirsten Schindler, dass die Umwelt sich auf unsere Niederschrift auswirkt. Hier knüpfen die studentischen Arbeiten an und entwickeln sich in alle möglichen Richtungen. Allein die sechzigminütige Präsentation schränkt sie ein. Ansonsten sind sie völlig frei. „Die Projekte sind das Herzstück des Seminars“, betont Lehnen. Bei ihren fortgeschrittenen Modulen lege sie viel Wert auf das selbstständige wissenschaftliche Arbeiten.
Die Projekte – von Anne Frank bis Supergirl ist alles erlaubt
„Ich war Feuer und Flamme“, antwortet eine Studentin auf die Frage, was sie von dem Kurs hält. „Die meisten sind zu theorielastig. Hier kann man Ideen einbringen, egal ob aus Literatur oder Film.“ „Momentan werde noch geplant“, so Lehnen über den Stand der Arbeiten. Es geht diesmal um Serienfiguren und ein berühmtes Tagebuch: „Supergirl arbeitet als Assistentin bei einem Magazin“, stellt eine Teilnehmerin ihr Projekt vor. Supergirl ist die Heldin einer gleichnamigen US-amerikanischen Science-Fiction-Serie, die 2016 zum ersten Mal in Pro Sieben lief. Unter dem Decknamen Kara Danvers veröffentlicht sie Zeitschriftenartikel und hinterfragt ihren Beruf. „Es geht um das Darstellen von Schreiben in einer Serie und am Arbeitsplatz“, führt die Studierende weiter aus. Untersucht wird, wie der Druck, Schlagzeilen zu entwerfen, das journalistische Schaffen beeinflussen kann.
Ein anderes Team beschäftigt sich mit dem Tagebuch von Anne Frank. Gewählt haben die Studierenden das Thema, weil es sich mit den Umständen auseinandersetzen möchte, unter denen das Tagebuch entstanden ist. Denn das jüdische Mädchen versteckte sich ab Juli 1942 mit seiner Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nationalsozialisten, die 1940 in die Niederlande eimarschiert waren. Vom 14. bis zum 16. Lebensjahr lebte Anne Frank voller Angst mit ihrer Familie und vier weiteren Personen auf engem Raum – bis sie verraten und deportiert wurden. Die Zeit im Versteck verarbeitete sie in ihrem Tagebuch. Als 1944 der niederländische Kulturminister im Radio dazu aufrief, das Leben unter der deutschen Besatzung aufzuzeichnen, beschloss sie ihr Journal umzugestalten: „Sie wollte ein Buch daraus machen“, so eine Studentin. „Sie überarbeitete die Einträge.“ Man merke dabei, sie werde reifer, ergänzt eine andere.
Die Seminarform fordert heraus
Und wie gestaltet sich der Seminaraufbau? „Ich gebe den Teilnehmern anfangs eine wissenschaftliche Grundlage“, erläutert Lehnen. Dazu führt sie das Plenum in die Schreibforschung ein. Diese begann 1975 in den USA, als laut Antos die Schreibkünste von Schüler*innen bemängelt wurden. Fünf Jahre später entstand das kognitive Schreibmodell von John Hayes und Linda Flower. Das Modell hinterfragt, was sich gedanklich beim Verfassen abspielt. So werden beim Planen die Leser*innen und die Textsorte berücksichtigt. Auch Teilschritte beim Schreiben wie das Überarbeiten wollen überlegt sein. Mit der Zeit wurde der Erklärungsansatz in der Forschung ausgebaut. Er dient Lehnen damit auch als Beispiel dafür, wie man wissenschaftlich arbeitet: indem man Theorien nicht nur „eins zu eins anwendet“, sondern „weiterentwickelt“. Eine Hürde, die ihre Studierenden immer wieder herausfordere.
Nebst dem theoretischen Basiswissen fuße die Veranstaltung auf eigenen Ideen und zeitiger Teambildung. Die Teilnehmer*innen sind froh, einmal „anwendungsorientiert“ arbeiten zu können, auch wenn sie vereinzelt mit der ungewohnten Seminarform hadern. Ihre Wünsche an den Kurs variieren von „mehr Theorie, weil es mega ist, das Schreiben zu erforschen“ zu mehr Praxis: „Ich dachte, wir verfassen selbst.“
Eigene Interessen verfolgen und „mit einer wissenschaftlichen Brille“ betrachten, das ist Prof. Lehnens Motto. Daran arbeiten ihre Student*innen momentan donnerstagmorgens. „Jedes Projekt hat seinen eigenen Reiz“, betont die Dozentin und schließt: „Die Gruppen erstellen sehr selbstständige Studien. Das ist klasse!“