Einfangen, was das Schreiben realitätsnäher macht
Von Ekatherina Doulia
Auf einem beigefarbenen Sofa in der Lounge des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) sitzt Prof. Katrin Lehnen. Bei einer Tasse Kaffee erzählt sie von ihrem Lehramtsstudium der Fächer Deutsch und Philosophie Anfang der 90er Jahre, der Promotion in Bielefeld und ihrer Forschung an der Universität. Lehnen ist seit 2016 geschäftsführende Direktorin des ZMI. Bereits seit 2007 ist sie Professorin für Germanistische Medien- und Sprachdidaktik an der Justus-Liebig-Universität (JLU) und forscht unter anderem seit 2014 zu einem Thema, das Studenten aller Disziplinen betrifft: das Materialgestützte Schreiben.
Das ist eine Prüfungsform für das Abitur, die 2012 von der Kultusministerkonferenz (KMK) für das Fach Deutsch eingeführt wurde. Dahinter verbirgt sich eine „Aufgabenart, bei der mithilfe von unterschiedlichen Materialien eigene Texte verfasst werden sollen“, erklärt Lehnen. „Man hat versucht, auf die Art zu reagieren, wie außerhalb der Schule tatsächlich gearbeitet wird“, führt sie fort. Bis 2012 war es gängig, einen argumentierenden Aufsatz wie eine Erörterung ganz ohne Hilfsmittel zu verfassen. „In der Realität hat man immer mehrere Quellen und muss nicht aus dem Nichts heraus Argumente finden.“ Mit dem Materialgestützten Schreiben soll letztlich „die Fähigkeit zum intertextuellen Arbeiten aufgebaut“ werden.
Seit 2014 beschäftigt sich das Team um Katrin Lehnen, Helmuth Feilke, Sara Rezat und Michael Steinmetz intensiv mit diesem Thema und dessen didaktischen Ansprüchen und Schwierigkeiten. In einem gemeinsamen Lehrbuch erarbeiteten die Autoren eine Sammlung für den Schulunterricht, in der das Materialgestützte Schreiben vorgestellt wird. „Vielen fehlten bis zu diesem Zeitpunkt konkrete Übungen und vor allem Texte, mit denen sie arbeiten konnten“, erklärt Lehnen.
Mit der Publikation des Buches setzte dann eine rege Forschung ein: Die entwickelten Konzepte wurden mit Schülern unterschiedlicher Klassenstufen erprobt und untersucht. Das Team beobachtete in Experimenten, wie sich die Jugendlichen mit solchen Aufträgen beschäftigten. „Wir gingen Fragen nach wie: Was machen die Teilnehmenden mit den Anweisungen? Welche Materialien benutzen sie? Was klappt und vor allem, was klappt nicht?“ Die Aufgaben wurden dabei teils von zwei Personen zusammen bearbeitet. In diesen Situationen waren sie aufgefordert, kooperativ (also gemeinsam) mithilfe von Bildern und Artikeln einen Beitrag zu verfassen. Dafür mussten sie sich über die ausgeteilten Unterlagen austauschen, ihren Standpunkt zum Thema erklären und Vorschläge zur Umsetzung machen. „In der Untersuchung stellte sich heraus, dass ein Unterschied zwischen dem geplanten und dem fertigen Text besteht.“ Einige Schüler machten sich zwar gemeinsam Gedanken über die zusammenhängende Ausgestaltung der Vorgaben bei der Produktion, nutzten diese aber kaum. Oftmals wurden „Überlegungen zur Struktur und zu inhaltlichen Bezugspunkten“ gemacht – ihre Verwendung fehlte aber beim finalen Aufsatz. Damit zeigte sich: Das neue Format ist für viele eine große Herausforderung.
Es gibt aber auch einige Vorteile. Mit der neuen Arbeitsweise könne man besser „auf Studium und Berufswelt vorbereiten“ und den Jugendlichen damit den Einstieg in diese Bereiche erleichtern. „In der Wissenschaft, aber auch im Journalismus, haben wir typische Prozeduren, die gelernt werden müssen“, erklärt Lehnen. So schwer und ungewohnt das auch ist, so sinnvoll sei es, etwas „einzufangen, was das Schreiben realitätsnäher und wahrhaftiger macht“, betont sie. Auch das kooperative Arbeiten bringe die Möglichkeit, neue Ideen aufzubauen, und ein höheres Maß an Kreativität. Hilfreich könne es dabei für Lehrer sein, erst „mit kleinen Übungen“ anzufangen und Schritt für Schritt die Vernetzung mehrerer Quellen zueinander zu erklären.
Am Ende angekommen ist die Forschung am Materialgestützten Schreiben an der JLU noch lange nicht. Ungeklärt ist bislang immer noch, welche Medien überhaupt sinnvoll sind und wie Schüler die darin enthaltenen Informationen auswerten. Das Wissen in diesen und weiteren Bereichen sei wichtig, um herauszufinden, „wie das Lernen verbessert werden kann“. Ein Faktor, der durch die Corona-Krise an Relevanz gewonnen hat und stärker erforscht werden soll, ist die Nutzung und Verknüpfung digitaler Materialien wie Online-Artikel, Videos und Forenbeiträge. Lehnen ist der Auffassung, dass „neue Medien auch neue Formate“ hervorbringen, die nicht nur das Unterrichten, sondern vor allem das Lernen verändern und vielleicht sogar erleichtern können.