© Frederike Wetzels

Von Franziska Bähr

„22 Bahnen“ schwamm Tilda damals auf der Suche nach Stabilität und um für einen kurzen Moment ihrem Alltag zu entfliehen. Nun, etwa 10 Jahre später, tosen die Gedanken ihrer Schwester Ida bei „Windstärke 17“ wie die Wellen der Ostsee. Das Meer ist für sie nicht mehr nur ein Sehnsuchtsort, als den Tilda ihn früher bezeichnet hatte. Ida durchlebt die Ostsee. Sie ist rau, ungestüm und unberechenbar, genauso wie Ida sich fühlt. Teils in Rückblenden und immer ganz nah dran, erzählt Caroline Wahl in ihrem neuen Roman und außergewöhnlichen Stil Idas Geschichte. Die Perspektive der Ich-Erzählung schafft eine besondere Nähe zur Protagonistin und eine tiefe Einsicht in ihre Gedankenwelt. Wirkten die Dialoge, angelehnt an die Figurenrede in Dramen oder Drehbüchern, in ihrem ersten Roman noch ungewohnt, tragen sie jetzt einen unverkennbaren Wiedererkennungswert und schaffen einen Bezug zwischen den Erzählungen der Schwestern.

Die Autorin Caroline Wahl.
© Frederike Wetzels

Wahl studierte zunächst Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin, arbeitete dann in mehreren Verlagen. Für ihren Debütroman „22 Bahnen“, der im Jahr 2023 erschien, wurde sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. Außerdem wurde „22 Bahnen“ zum Lieblingsbuch der Unabhängigen Buchverlage 2023 gekürt. Die Bewertungen in den sozialen Medien überschlugen sich. Die Leser*innen, beispielsweise des Portals „Vorab Lesen“, waren jedoch geteilter Meinung. Besonders in der Kritik stand der moderne Schreibstil der Autorin. 

Derzeit lebt Caroline Wahl in Rostock. Ihre eigene Liebe zum Meer sei die Inspiration dafür gewesen, den Handlungsort ihres neuen Buches an die Ostsee zu verlegen, sagte die Autorin in einem Interview mit dem NDR Kultur-Journal im Mai 2024.

Das bisherige Leben der Protagonistin Ida ist wie Tildas tief geprägt vom Alkoholismus der Mutter. Nach dem Weggang ihrer großen Schwester flüchtet sie sich in Fantasiewelten und schreibt eigene Geschichten, denn sie möchte Autorin zu werden. Als dann die Absage ihrer favorisierten Universität kommt, schreibt Ida trotzdem weiter und studiert Literatur in ihrer Heimatstadt, genau wie ihre Mutter. Zwischen Studium und Schreiben versorgt sie ihre alkoholkranke Mutter so gut es geht und versucht, ein relativ normales Leben als junge Erwachsene zu führen. Nach einem Städtetrip passiert dann das, womit sie schon immer irgendwie gerechnet hat, was sie aber gleichzeitig fürchtete:. Sie findet ihre Mutter tot auf und die Musik aus ihren Kopfhörern dröhnt: „It’s my life. It’s now or never. But I ain’t gonna live forever.“. 

Es folgt eine Schreibblockade und ein Kampf mit der Trauer. Kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter, an der teilzunehmen Ida nicht die Kraft hatte, läuft sie davon. Raus aus dem traurigsten Haus der Fröhlichstraße, raus aus ihrer Heimatstadt. Sie bricht alle Kontakte ab und geht in den „Flugmodus“. Eher aus Zufall landet Ida dabei auf der Insel Rügen.

Dort trifft sie auf ein älteres Ehepaar. Knut, Besitzer einer Kneipe, gibt ihr einen Job und in seiner Frau Marianne findet sie bald eine Art Mutterfigur. Ida erlebt eine Beständigkeit, die sie in ihrer Kindheit und Jugend vermisste und wahrscheinlich benötigt hätte. Zusammen gehen sie walken, spielen Brettspiele und essen Kuchen, ganz normale Tätigkeiten und doch so ungewohnt. „Und ich frage mich, womit ich das verdient habe, und vor allem, wie lange ich es noch habe, bis alles wieder zusammenbricht, wie eben immer alles zusammenbricht“, denkt Ida. Es wirkt, als würde sie nur darauf warten, bis ihr wieder jemand Steine in den Weg legt.

Mit der Hilfe der beiden öffnet sich Ida nach und nach. Sie merkt, dass auch sie gebraucht wird. Und dann kommt Leif, mit seinem ganz eigenen Ballast und diesen „grünen, melancholischen Augen“. Auch er braucht sie. Sie lernen sich kennen, lieben und retten sich gegenseitig. Bis Idas neue Welt dann wirklich wieder zerbricht.

Wie Tilda in „22 Bahnen“ sucht auch ihre Schwester nach Trost und Sicherheit. Immer wieder entfliehen die beiden den Menschen um sich herum und flüchten sich in den Wald. Manchmal zum „Brüllen“, manchmal einfach zum Nachdenken, denn der Wald mit seinen hohen Bäumen scheint die Geheimnisse der Schwestern gut zu bewahren. Nur dort stellen sie sich ihren Gefühlen und lassen sie zu. In „Windstärke 17“ sind es vor allem die Schuldgefühle mit denen Ida kämpft. Sie sind allgegenwärtig. Sie träumt und erlebt den Tod ihrer Mutter immer und immer wieder und fragt sich: „Würde ich sie nicht mehr auffinden, wenn ich stärker eingeschritten wäre, wenn ich nicht so schnell aufgegeben hätte?“ Aber dafür ist es zu spät und anstatt die Vergangenheit lediglich zu bedauern, muss sich Ida, ob sie will oder nicht, damit auseinandersetzen. Ihre durchlebten Höhen und Tiefen sind deutlich spürbar. Durch den besonderen Schreibstil der Autorin wird eine Verbundenheit hergestellt, die mitfühlen lässt und bewegt. Das Erleiden eines Verlusts, sich wieder zu berappeln nur um unmittelbar den nächsten Herausforderungen gegenüberzustehen, während sie mehr oder weniger auf der Suche nach sich selbst und auf dem Weg ist, so richtig erwachsen zu werden, ist frustrierend und belastend.

Caroline Wahl ist die Fortsetzung ihres Debütromans mehr als gelungen. „Windstärke 17“ ist eine einzigartige Geschichte über den Tod und den Umgang mit Trauer und Schuldgefühlen. Über Wut und Glück und die Liebe. Über Herausforderungen und darüber, trotz allem zu überleben.

Caroline Wahl: Windstärke 17. DuMont Verlag. 256 Seiten. 24,00 Euro. ISBN 978-3-8321-6841-4.