© Johanna Becker/Literarisches Zentrum Gießen

Von Tabea Marx

Moritz Rinke – ein etwas anderes Porträt

„Das Geniale an Gießen war, dass man sich dort zum Genie ausbilden lassen konnte, weil es sonst nichts zu tun gab“, offenbart der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke im Weser-Strand-Interview mit Axel Brüggemann. Obwohl Gießen nicht im Ruf steht, eine schöne Stadt zu sein, entschied sich Moritz Rinke für die Justus-Liebig-Universität. Dort studierte er Drama, Theater, Medien (heute: Angewandte Theaterwissenschaften) bei Prof. Andrzej Wirth. Die großeNähe zu den Dozenten gefiel ihm sehr. Ein Studiengang, der 20 TeilnehmerInnen umfasst, sei ein großer Luxus gewesen.Zum Vergleich: Heute hat schon so manches Seminar eine solche TeilnehmerInnenanzahl. Während Rinke der Stadt am Wochenende lieber entfloh und ins nahegelegene Frankfurt fuhr, studierte er unter der Woche mit großer Begeisterung und blieb Gießen bis 1994 treu.

Was bloß tun in Gießen?

Einer der beliebtesten Treffpunkte der Gießener Studenten ist der Schwanenteich, gelegen in dem idyllischen Stadtpark Wieseckaue. Unweit davon: die Ludwigstraße. Mit ihren herrlich klebrigen, versifften, urigen Kneipen gehört sie zu den Lieblingsorten der Gießener Studenten und hatte bereits damals Kultstatus. Und auch Moritz Rinke hielt sich dort gerne auf, um Billard zu spielen. In einem Interview mit dem Gießener Anzeiger verriet der Dramatiker außerdem, dass er gerne mit seinen Kommilitonen die Diskothek „Ausweg“ besucht habe. Sie schloss 2002 und musste einem Reifenlager weichen. Der heutige Erfolgsautor wohnte damals im Gießener Stadtteil Wieseck. Mit der Eisdiele um die Ecke verbindet der ehemalige Student besonders schöne Erinnerungen. In einem Interview mit dem Gießener Anzeiger spricht der Autor über eine Begegnung der besonderen Art: Er hatte damals schrecklichen Liebeskummer – so beschreibt es Rinke zumindest. Der Einzige, dem er sein Leid klagen wollte, war der Schriftsteller Max Frisch, sein großes Vorbild. Er schrieb ihm einen Brief und auf dem Weg zum Briefkasten las er die Nachricht: „Max Frisch verstorben“. Betrübt darüber, setzte sich Rinkein die Eisdiele. Am Nachbartisch saß ein netter Herr, der konzentriert in seinem Buch las und fast seinen Eisbecher vergaß. Rinke erzählte ihm von seinem Herzschmerz. „Er war kein junger Student mehr wie ich, sondern wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft“, berichtet Rinke über den Unbekannten. Nach einigen Wochen begegneten sich die beiden wieder, erneut in der Eisdiele. Soeben zum Doktor ernannt, war der Fremde förmlich gekleidet, in einen lilafarbenen Anzug. Er hieß Frank-Walter Steinmeier. Festgestellt haben beide es erst zehn Jahre später, als Rinke eine Lesung im Schloss Bellevue gab. „Manchmal, wenn wir uns im Schloss Bellevue sehen, sprechen wir noch über Wieseck und die guten alten Eisbecher.“

Der Gießener Theaterprofessor und Dandy von Berlin

„Der letzte Dandy von Berlin“ – so beschreibt Rinke seinen einstigen Professor Andrzej Wirth, der hier in seiner ehemaligen Berliner Altbauwohnung zu sehen ist. © Mike Wolff / Der Tagesspiegel

Immer noch fühlt sich der Bestsellerautor mit Gießen sehr verbunden. Zu einigen seiner ehemaligen Kommilitonen habe er noch Kontakt und arbeite beruflich mit dem einen oder anderen zusammen. Der wohl prägendste Wegbegleiter des Erfolgsdramatikers war Professor Andrzej Wirth, der Gründer der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen. In dem ARTE/ZDF-Film „Mein Leben – Moritz Rinke“ erzählt der Schriftsteller über seinen Professor: „Wenn man bei Andrzej Wirth studiert hat, hatte man das Gefühl, man schwebt über dem Betrieb.“ Später zog Wirth nach Berlin. In dessengeschichtsträchtiger Berliner Wohnung lebt Moritz Rinke heute. Hier ging das Who is Who der Theater- und Kulturszene ein und aus: Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass, Robert Wilson und Karol Wojtyla, also Papst Johannes Paul II. Wirth und Wojtyla waren Jugendfreunde und haben zusammen in Warschau studiert. Denn glaubt man Rinke, wollte der mittlerweile verstorbene Papst eigentlich auch Theaterstücke schreiben. 

Von seinem einstigen Gießener Professor hat Rinke viel gelernt: sowohl fachliche Kompetenz als auch die Bedeutung der öffentlichen Wirkung. „Professor Wirth lehrte den selbstbewussten Auftritt, die nötige Arroganz, ohne die ich in der Theaterwelt nicht hätte überleben können“, schreibt der Schriftsteller im Theatermagazin. Bis zu dessen Tod im März 2019 standen der Professor, „Berlins letzter Dandy“, und Rinke in engem Kontakt. 

Die DFB Autoren-Elf

Selbst sein Hobby Fußball und Gießen passen für Moritz Rinke gut zusammen. Denn neben der Literatur hegt er eine Leidenschaft für das runde Leder. Der eingefleischte SV Werder Bremen-Fan ist nicht nur Botschafter des Vereins, sondern steht auch selbst auf dem Spielfeld, in der 2005 gegründeten deutschen Fußball-Autorennationalmannschaft(Autonama). Im April 2009 fand am Gießener Kugelberg ein Spiel zwischen der Autonama, den Lehrenden und Studenten des Germanistik Instituts statt. Eingebettet wurde das Rückspiel in ein „Lese-Kultur-Wochenende“, das von den Studierenden organisiert wurde. Wichtig für beide Teams sei es gewesen, das Literarische mit dem Fußball zu verbinden, wie der Gießener Anzeiger betont. Mit einem knappen 5:4 mussten sich die literarischen Balltreter, unter ihnen Moritz Rinke als Ersatztorwart, dennoch geschlagen gebenIm deutschen Autorenteam spielt der Dramatiker im Sturm und engagiert sich im Kuratorium der DFB-Kulturstiftung. Vor Corona-Zeiten trainierte die Autorenmannschaft im Berolina-Stadion in der Auguststraße, ein Sportplatz mitten in Berlin. Hier wurde der Schiedsrichter nach Abpfiff mit drei Korn und vier Bier bezahlt. Der schreibende Fußballer war schon immer in den Ballsport involviert. Das behauptet nicht nur Rinke selbst, sondern auch der Ex-Nationaltorwart und Ehrenspieler des SV-Werder Dieter Burdenski höchstpersönlich, wie im Filmporträt „Mein Leben – Moritz Rinke“ zu sehen ist. Dort erzählt der Autor, dass er sich als Jugendtorwart vor einem Spiel die Bilder von seinen größten Idolen unter seine Stutzen steckte. Wie es sich eben für einen waschechten Fußballspieler gehört. Rechts das Hanuta-Bild von Ronny Helström, links das von Burdenski. Geholfen habe es immer. 

Die Autorennationalmannschaft (Autonama) zu Gast in Gießen. Vor Spielbeginn betont Moritz Rinke, die Autoren „brennen auf die Revanche“. Dennoch mussten die fußballspielenden Literaten den Platz mit einer knappe Niederlage verlassen. © Autonama

Gießen 1989-1994 – eine sehr prägende Zeit in seiner ersten ‚großen‘ Stadt, mit vielen Erinnerungen und unvergesslichen Begegnungen. Stets mit seinem Studienort verbunden, wird es bestimmt ein nächstes Wiedersehen geben. Spätestens, wenn Rinke wieder einmal zu Gast in der Gießener Universitätsbibliothek ist, um aus seinem neuesten Werk zu lesen.